Von Yasin Baş
„Von den Türkischstämmigen, die schon lange in Deutschland leben, erwarten wir, dass sie ein hohes Maß an Loyalität zu unserem Land entwickeln.“ Was könnte der Anlass für die Forderung der Kanzlerin gewesen sein? Möglicherweise die Sorge, dass innenpolitische Konflikte nach dem Putschversuch in der Türkei auch auf deutschen Straßen ausgetragen werden könnten?
Wenn dies die Absicht war, hätte sich unsere Kanzlerin konsequenterweise lange vorher zu Wort melden müssen. Nämlich dann schon, als die auch in Deutschland als Terrororganisation eingestufte PKK zum Teil gewaltsame Aktionen auf deutschen Straßen durchführte. Seit Jahren werden Vereinslokale und Einrichtungen von Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland von PKK-Aktivisten in Brand gesteckt und zerstört. Trotz offener Bekennerschreiben auf einschlägigen Internetseiten schaffen es solche terroristischen Angriffe kaum in die überregionalen Medien, noch weniger auf die politische Agenda.
Alte Denkweisen völkischen Ethnonationalismus‘
Welche Befürchtungen könnten Merkel darüber hinaus dazu bewogen haben, mehr Loyalität zu erbitten? Wahrscheinlich könnte die von über 100 zivilgesellschaftlichen Organisationen unterschiedlicher Couleur in Köln ausgerichtete, aber gezielt als „Pro-Erdogan-Kundgebung“ oder „Erdogan-Demo“ verteufelte „Großveranstaltung für die Demokratie“ mit über 50.000 Teilnehmern ein Grund sein.
Dass zu den unterstützenden Vereinen der Kundgebung auch mehrere Erdogan-Gegner zählten, interessierte große Teile der Medien und Politik nicht. Oder wurde diese Wirklichkeit bewusst ausgeblendet, weil es nicht in das öffentliche Leitbild passte? Trotz verschiedener Behinderungen und ständig neuen Auflagen konnte die Veranstaltung friedlich und ohne Probleme stattfinden. Zum Abschluss gab es sogar noch Blumen für die Sanitäter und die Polizei.
Möglich, dass diese Veranstaltung so manchen Politiker besorgt hat. So erklärten manche Kolumnisten und einige Unionspolitiker der CDU/CSU, allen voran Jens Spahn, dass so genannte türkischstämmige Erdogan-Anhänger frei seien, Deutschland zu verlassen oder ihre deutschen Pässe zurückzugeben. Vor wenigen Tagen einigten sich zudem die Innenminister der Unionsparteien in der „Berliner Erklärung“ die doppelte Staatsbürgerschaft 2019 gegebenenfalls abzuschaffen.
Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass sich ein Einwanderungsland im 21. Jahrhundert in alten Denkweisen des völkischen Ethnonationalismus verfängt. Ich habe mich geirrt. Manche populistischen Politiker haben anscheinend vor dem Hintergrund anstehender Wahlkämpfe doch noch genug rechten Drall, die AfD rechts zu überholen.
Merkels Wille zur Empathie gibt Hoffnung
Ein positives Signal von Kanzlerin Merkel ist dagegen ihr Wille zur Empathie. Merkel wolle ein offenes Ohr für die türkischstämmigen Menschen in Deutschland haben und versuchen sie zu verstehen. Die Regierung halte engen Kontakt mit den Migrantenverbänden. In diesem Zusammenhang wäre es angebracht, die Diffamierungskampagnen gegenüber den großen türkischstämmigen Verbänden zu beenden und wieder zur Sachlichkeit zurückzukehren. Die Eskalationsstrategie einiger Behördenapparate (z.B. ein „Büroversehen“ im Innenministerium) scheinen im Gegensatz zu den außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik zu stehen. Und: Wer Loyalität fordert, sollte Zugehörigkeit und Wertschätzung fördern!
Loyalität der Türkischstämmigen gilt dem Grundgesetz
Ich glaube nicht, dass Millionen von türkischstämmigen Menschen, die im Zuge der Anwerbeabkommen nach Deutschland kamen sowie ihre Kinder und Enkel sich jemals illoyal gegenüber ihrer Heimat – Deutschland – verhalten haben. Deutschland ist wie für Millionen von Menschen auch Vaterland für die türkischstämmige Bevölkerung. Ferner ist es unaufrichtig, dass Menschen, die hier geboren, aufgewachsen und sozialisiert sind und auch hier sterben werden immer noch angezweifelt oder ausgegrenzt werden. Eine Diskussion um Loyalitäten zeigt, dass die türkischstämmigen Menschen immer noch unter dem Aspekt der Sicherheit bzw. als Sicherheitsrisiko behandelt werden.
Loyalitätsentscheidungen von Menschen zu verlangen, die sich seit Jahrzehnten mit Hand, Schweiß, Kopf und Herz für die Entwicklung Deutschlands einsetzen, ist nichts als eine identitätsstiftende und künstliche Ausgrenzungsmethode. Die Loyalität der türkischstämmigen Menschen in unserem Land gilt nicht einer Partei, Religion oder Ideologie. Unsere Loyalität gilt unserem Staat Deutschland, seinem Grundgesetz und seinem Rechtssystem. Der Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung wies im Jahre 2015 genau das nach.
Niemand darf aufgrund seiner politischen Anschauung benachteiligt werden
Gemäß Artikel drei, Absatz drei im Grundgesetz darf niemand „wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Obwohl laut unserer Verfassung niemand aufgrund seiner politischen Anschauung benachteiligt werden darf, können wir der Presse entnehmen, dass in letzter Zeit immer mehr türkische und türkischstämmige Verbände, zivilgesellschaftliche Organisationen, Menschengruppen und Einzelpersonen verdächtigt und diskreditiert werden. Die Androhung von Ausbürgerung, Ausweisung oder anderer repressiv-diskriminierender Maßnahmen gegen Menschen, die anderer politischer Anschauung sind, als die öffentlich gewünschte oder geforderte, werden niemals eine Distanz zu Deutschland und dem Rechtsstaat bewirken.
Heterogenität eine Chance für jedes Land
Den Vorteil von Doppel- bzw. Mehrsprachigkeit, Doppel- oder Mehrkulturalität, Doppel- oder Mehrstaatlichkeit zu begreifen, ist zugegebenermaßen für Leute, die immer nur einsprachig, monokulturell und monostaatlich gelebt haben, nicht ganz einfach. Aber auch hier können türkischstämmige Deutsche behilflich sein, diese Herausforderung zu bewältigen. Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit sind eine Chance für jedes Land der Welt. Natürlich gilt das aber nur für diejenigen Staaten, die diese Unterschiede auch zu Möglichkeiten umwandeln wollen und können.
Denjenigen, die jegliche Differenzen als potentielle Gefahr und Risiko sehen, kann nur schwer weitergeholfen werden. Sie sind darin frei, mit ihren Scheuklappen weiter durchs Leben zu marschieren. Wenn in unserem Land aber wirklich Platz für jeden ist, muss sich auch die rückwärtsgewandte und fortschrittsfeindliche Haltung wandeln. Blinder Reaktionismus schadet unserer Gemeinschaft. Man kann sich an klassischen Einwanderungsstaaten wie den USA, Kanada und Australien oder an den neuen Einwanderungsstaaten Indien und China orientieren. Auch die Türkei hat jahrhundertealte Erfahrungen damit, Heterogenität als Chance zu nutzen.
Wir alle müssen Verfassungspatrioten sein
Ist es vielleicht ein Zeichen von Naivität oder Unwissenheit, dass manche Politiker, Medienverlage oder Personen der Öffentlichkeit die türkischstämmigen Bürger in Deutschland zur Entscheidung nötigen, sich für ein Land zu entscheiden? Wird dieser Druck eigentlich auch auf US- oder EU-Bürger ausgeübt? Wir, die Menschen mit türkischen Wurzeln, sehen beide Seiten als unsere Heimat an. Für uns gibt es kein „entweder-oder“, sondern ein „sowohl-als auch“. Die Türkei ist unser Mutterland. Und Deutschland? Deutschland ist unser Vaterland.
Wir fühlen uns sowohl Deutschland als auch der Türkei, sowohl Europa als auch Asien in gleichem Maße verbunden. Wir sind und leben transnational. Wir träumen türkisch, aber auch deutsch. Es gibt sogar viele unter uns, die englisch und französisch zugleich träumen. Niemand darf uns zwingen, uns für nur eine Seite zu entscheiden. Jeder sollte uns mit unserem Mehrwert und unseren Vorteilen akzeptieren. Gibt uns unser Grundgesetzt hierbei keine Richtschnur? Kurz: Die Mehrheitsgesellschaft muss zumindest genauso loyal zur deutschen Verfassung stehen wie die Minderheiten. Wir müssen alle gemeinsam Verfassungspatrioten sein.
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Yasin Baş ist Politologe, Historiker, Autor und freier Journalist. Zuletzt erschienen seine Bücher: „Islam in Deutschland – Deutscher Islam?” sowie „nach-richten: Muslime in den Medien”.Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.