Ein Gastbeitrag von Michael Thomas
Als ich sieben Jahre alt war bekam ich zu Weihnachten ein Gewehr. Das war ein gnadenlos tolles Ding, das da unter dem Weihnachtsbaum neben der Krippe für mich lag; ganz aus Plastik, was damals, Mitte der sechziger Jahre, eine kleine Sensation war, machte es mich zum Star unter meinen Freunden und war ein langgehegter Wunsch von mir. Es machte „Peng!“ und ich konnte lustige, kleine Gummipfeile damit verschießen.
Ärgerlicherweise musste ich dazu ein mühevoll und lustlos auswendiggelerntes Gedicht vortragen, dessen tieferer Sinn sich mir nicht erschloss und eine Geschichte erzählte, die sich irgendwann, irgendwo weit entfernt von mir und meinem Leben abgespielt haben soll.
All das, was der Pastor sonntags vor Weihnachten in unserer Kirche und unter der Woche in unserem Religionsunterricht, den er in meiner Grundschulklasse gab, zu dieser Geschichte erzählte, war sehr weit von uns entfernt.
Ich wuchs in einem menschenleeren Städtchen mitten im Wald auf; tagsüber, noch bevor wir zur Schule gingen, verschwanden die Leute in nahegelegenen, größeren Städten und arbeiteten dort. Das machte die Straßen bei uns leer und oft schien es, als lebte dort eigentlich niemand. Viele Kinder waren wie ich „Schlüsselkinder“.
Sie trugen den eigenen Haustürschlüssel am Band um den Hals. Für sie stand mittags etwas Vorbereitetes im Kühlschrank, auf dem Tisch oder dem Herd, eigentlich sollten sie nach dem Essen ihre Schulaufgaben machen und daheim sein, wenn die Eltern zurückkehrten.
Niemand erzählte uns mehr von diesem Kind in der Krippe und kaum jemand schien wirklich daran zu glauben. Das mit dem allsonntäglichen Kirchgang, dem ich selbst nicht unterworfen war, da meine Eltern klammheimlich eher atheistisch waren, war eine scharf abgezirkelte Sache.
Man begann sie in dieser winterlich kalten Kirche, sang sehnsuchtsvolle Lieder, ließ sich geduldig und still ins Gewissen reden, beteiligte sich an rituellen Gemurmele, ging auf die Knie, erhielt ein bisschen was Essbares, das dem Kinder-„Esspapier“ glich und machte dann mit seinem Leben genau dort weiter, wo man es zuvor unterbrochen hatte.
An normalen Tagen sahen wir in den Nachrichten, wie US-amerikanische Panzer vietnamesische Dörfer einebneten. Das Baby, das da einstmals in Jerusalem im Futtertrog lag, umstanden von Vieh und merkwürdigen Weisen, spielte keine Rolle.
Sicher, es gab immer gutes Essen zu Weihnachten, und da mein Vater prämierter Küchenmeister und in internationaler Küche sehr beschlagen war, speisten wir daheim in diesen Tagen besonders vorzüglich. In meinen Kindertagen schloss sich dem Schmaus im Familienkreise noch einer im weiteren Familienverbund an, dem sich dann mein Onkel, selbst auch Küchenmeister, bei den Vorbereitungen hinzugesellte und wenn dann nachmittags der Sprit auf den Tisch kam, wurde es lustig.
Wir wussten natürlich, es wurde uns immer aufs Neue eingeschärft, dass Tante Maria auf keinen Fall Schnaps haben durfte, also haben wir sie als Blagen natürlich augenzwinkernd und grinsend aufs Beste damit versorgt. Sie sang dann schnell zur allgemeinen Empörung unzüchtige Lieder, riss Zoten, bedachte Verwandte mit seltsamen Scherzen und wurde, wenn die Haare wirr wie die Worte wurden, mit vereinten Kräften zu Bett gebracht.
Weihnachten eben.
Als Teenager erwischte mich die Liebe zur Geschichte und ich begann mich dafür zu interessieren, was die Wissenschaft, besonders die Archäologie zum Thema Weihnachten zu sagen hatten. Aber da gab es nicht viel. Allzu oft hieß es: „Man nimmt an, …“
Das Baby, das unter solch ärmlichen Verhältnissen geboren war, begann mir menschlich leid zu tun. Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch keine Ahnung, dass meine eigene, tiefe und historische Familiengeschichte einen faszinierenden Anknüpfungspunkt zu ihm hat.
Einmal, ich glaube, ich war gerade fünfzehn geworden, bekam ich einen Plattenspieler zu Weihnachten. Er lag als gigantisches Paket genau neben der Krippe und verdeckte den Kleinen in dem Futtertrog beinahe ganz.
Dem Steingutesel, der daneben stand und an dem das Herz meiner Mutter so sehr wie an seinen anderen Steingutkameraden hing, fehlte bereits ein kleines Stückchen aus dem Ohr.
Von dem Geld, das ich von meinem Opa zu Weihnachten bekam, kaufte ich mir eine Schallplatte. Meine erste.
Was kümmerte mich Jerusalem. Als ich 16 war, bekam ich ein Mofa geschenkt. Eine Herkules. Mein Aktionsradius erweiterte sich enorm, zumal ich im folgenden Jahr meine Ausbildung in der nahegelegenen Industriestadt begann. Schon in dieser Ausbildung traf ich Menschen aus allen Ländern, von allen Kontinenten, aß, verhandelte, scherzte mit ihnen und saß häufig mit ihnen zu lauschiger Stunde und vertiefte mich jenseits jeden geschäftlichen Gegenstandes in Gespräche mit ihnen.
Sie waren wie wir.
Nicht nur, dass sie so ihre ganz eigenen Feierlichkeiten und Götter hatten, sie gingen sehr ähnlich mit ihnen um wie wir selbst: meist gar nicht. Sie schätzten ihre Feiertage, kamen mit Blumen, Opfergaben und Inbrunst in ihre Tempel, beteten, versprachen ihren Gehorsam und hauten kurze Zeit später aufs Neue ihre Mitmenschen in die Pfanne.
Ich habe die meisten großen und bedeutenden Gotteshäuser Europas besucht. Die, in denen Könige aufgebahrt sind, die, die aus Dankbarkeit wegen des Überstehens einer großen Seuche errichtet wurden, die, in denen staunenswerte Reliquien untergebracht sind. Aber meist trieben direkt auf deren Vorplätzen ganze Scharen von Taschendieben ihr Geschäft.
Der Pastor meines Geburtsstädtchens und meiner Kindertage war gefürchtet für seine donnernden Predigten, in denen er auch nicht davor Halt machte, dabei einzelne Kirchenbesucher mehr oder weniger ganz direkt und persönlich für ihre Vergehen anzusprechen. Sie sanken erkennbar errötend in ihrer Kirchenbank zusammen. Geholfen hat es nichts. Deshalb hatte Wilhelm ja doch nicht weniger getrunken, Manfred seine Frau nicht weniger geschlagen.
Die Geburt, das Leben und die Botschaft des Kleinen im Stroh verbleibt in einem scharf abgezäunten Winkel der Menschen, dessen Vorhang zur Seite geschoben wird, wenn es Geschenke und gutes Essen geben soll.
Eine „weihnachtliche Stimmung“ halt, die von Schnee, Kälte, heißem Tee, besonderen Gewürzen, Gerüchen und einem warmen Kamin erzählt. Die uns unsere Kindertage mit all den schönen Erinnerungen daran zurückbringen.
Der Kleine im Stroh ist Staffage, Kulisse, Mittel zum Zweck. Heute verzichten viele, die ihren Weihnachtsbaum aufwendig schmücken und ihm Geschenke zu Füßen legen, gleich ganz auf diese Krippe. Warum auch sollte man den Kleinen im Stroh sehen, wenn man ihm sowieso nicht zuhört? Wir machen das schon, wir kriegen das hin.
Während wir unsere jahrhundertealte, „christliche Tradition“ beschwören, bauen und liefern wir Waffen. Wir können das erklären. Das geht ebenso gut wie im Mittelalter, als wir Tausende von Frauen folterten und zusammen mit Juden auf Scheiterhaufen schleppten, weil dies angeblich dem Glauben diente und dem Kleinen im Stroh gefallen würde. Das geht schon, das kriegen wir hin.
Wir sind so gut darin, dass wir uns sogar fröhlich zu Ehren des Kleinen im Stroh zum Gänseschmaus an den Tisch setzen, während seine einstige Heimat bombardiert wird – mit unseren Waffen. Es klingen die Gläser und es leuchten die Augen, während andere Kleine unter Trümmern genau dort sterben, wo der andere dereinst lebte, dem wir doch zugehören wollen.
Was der Kleine wohl dazu gesagt hätte, dass ich nicht nur ein Gewehr zu Ehren seiner Geburt geschenkt bekam, sondern mich auch noch darüber gefreut hatte?
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.
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