Start Politik Ausland Gastkommentar Türkei: Kurdenkonflikt oder doch Interessenskonflikt?

Gastkommentar
Türkei: Kurdenkonflikt oder doch Interessenskonflikt?

Yücel: "Die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung, kurz bpb, hat aktuell wieder den sogenannten "Kurdenkonflikt" bzw. die „kurdische Frage“ für sich entdeckt"

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Ein Gastbeitrag von Nabi Yücel

Die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung, kurz bpb, hat aktuell wieder den sogenannten „Kurdenkonflikt“ bzw. die „kurdische Frage“ für sich entdeckt… just zu einer Zeit, in der der Bündnispartner des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, Devlet Bahçeli, eine mögliche kurzzeitige Freilassung des inhaftierten Anführers der Terrororganisation PKK, Abdullah Öcalan, zur Debatte stellt.

In einer Rede vor der Fraktion der MHP warf Devlet Bahçeli sprichwörtlich eine Granate in den Raum. Bahçeli erklärte, Abdullah Öcalan solle als Führer der PKK, die Terrororganisation in einer Rede vor der völkisch-kurdischen DEM-Fraktion im türkischen Parlament zu Gewalt- und Waffenverzicht auffordern und sich damit entscheiden, ob sie mit der Türkei oder mit anderen Mächten in die Zukunft blicken wollen.

Die Reaktionen darauf waren in den ersten Stunden entsprechend kontrovers. Öcalan verbüßt auf der Gefängnisinsel İmralı eine lebenslange Haftstrafe. Eine Freilassung käme aufgrund der Gesetzeslage so nicht infrage. Jedoch wäre ein kurzer Landgang möglich, wenn per Gesetz die Isolationshaft aufgehoben wird. Dazu benötigt die Koalitionsregierung jedoch eine Mehrheit und die ist nur mithilfe der CHP und der DEM möglich.

In den ersten Stunden nach dieser Hiobsbotschaft von Bahçeli, ging selbstverständlich ein unüberhörbares Raunen durch die Türkei, gar sprichwörtlich ein Erdbeben. Die MHP geriet unmittelbar danach unter besonderen Druck.

Bahçeli, der im Februar 2015 noch ein kategorisches „Nein“ zum Friedensprozess mit der PKK bewarb und deshalb einer der vehementesten Gegner Erdoğans wurde, erklärt also fast ein Jahrzehnt später, dass der von der DEM als Führer der „Kurden“ und als Messias für Frieden gepriesene Öcalan, die PKK zum uneingeschränkten Gewalt- und Waffenverzicht auffordert; und zwar im türkischen Großen Nationalparlament.

Wieso stellt sich ein Dinosaurier der türkischen Politik vor Fraktionsmitglieder und plädiert öffentlich, dass alle Mitglieder des Parlaments sich zusammenraffen und sich für diesen Weg entscheiden müssen, sprich ein Gesetz mittragen, der einen Freigang Öcalans ermöglicht, um im Parlament die PKK zur Aufgabe zu zwingen?

Bahçeli, so meine Meinung, hat nicht nur eine Granate geworfen, sondern fordert die oppositionelle CHP und die völkisch-kurdische DEM auf, die Granate auch zu entsichern, wenn sie den Schneid dazu haben.

Bahçeli weiß sehr wohl, dass die DEM wie die CHP damit in ein Interessenskonflikt geraten und das nicht ohne weiteres tun können, ohne sich kategorisch für das eine oder andere zu entscheiden: stehen sie für die „Türkei oder für andere Mächte“, betonte doch Bahçeli während seiner Rede.

Der CHP-Parteivorsitzende Özgür Özel, der zuvor noch den inhaftierten ehemaligen Parteivorsitzenden der DEM, Selahattin Demirtaş, in Silivri besuchte, war just während der Rede Bahçelis drauf und dran zu einer Stippvisite durch die südöstlichen Regionen der Türkei unter dem Motto „es gibt eine Kurdenfrage“ aufzubrechen.

Die CHP sucht nicht erst seit den letzten Wahlen, die Stimmen der kurdischstämmigen Wähler für sich zu gewinnen, um eine Regierung zu bilden. Die bescheidenen Ergebnisse führten jedoch dazu, dass die CHP immer mehr dazu überging, ihre Mandate an die ehemalige HDP zu verscherbeln, in der Hoffnung, in einer Koalition die Regierung zu bilden. Doch das Scheitern, zuletzt bei den Wahlen von Anfang 2024, hat die CHP offensichtlich nicht davon abgebracht, diesen Plan weiter zu verfolgen.

Bahçeli stahl Özel jedoch mit seiner Aufforderung nicht nur die Politshow im Südosten, sondern spornte sogar an, noch weiterzugehen, als man bisher über die Lippen brachte und ständig darum eierte. Özel brach seine Reise durch den Südosten nach nur einem Tag ab – nach dem Terroranschlag der PKK in Kahramankazan.

Und die DEM fordert ja seither (auch ihre Vorgängerparteien), dass ihr „Führer“ Öcalan aus der Haft entlassen wird, um dem „Frieden“ entsprechend ihrer weiteren Forderungen den sogenannten einen und einzigen Weg zu ebnen.

Mit der Rede von Bahçeli steht nun auch die DEM in Zugzwang, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Wird die DEM zum Beispiel in der Lage sein, sich an die PKK zu wenden und zu sagen: „Lass die Waffen fallen, wir werden jetzt eine vereinte Nation“, weil Öcalan es im Parlament herausposaunt hat?

Die Mutter aller Fragen lautet jedoch: wird die PKK überhaupt auf Abdullah Öcalan hören, der bei Überführung von Kenia in die Türkei im Charterjet noch sang, er werde dem türkischen Staat dienlich sein. Offensichtlich nicht, wie es jüngst aus Verlautbarungen der PKK-Führung zu hören war. Ist Öcalan etwa für die PKK wie auch die DEM längst verstorben, wird nur noch sein Erbe vor sich hergetragen?

Die Antwort auf die Einlassung von Bahçeli ist banal wie genial zugleich: Wenn die Parteien der Aufforderung von Bahçeli mit „Nein“ kommen, wird es nicht funktionieren, weil sie ja den absoluten Frieden und die Einheit konterkarieren und damit die Wählerschicht mit kurdischen, laizistischen oder säkularen Hintergrund vor den Kopf stoßen – in der Frage, ob sie Öcalan folgen oder ausländischen Mächten!

Wenn sie mit „Ja“ kommen, stünde das im Widerspruch zum Gründungsepos der DEM-Partei oder dem Parteibuch der CHP, auf der die Parteiführungen ja bislang einen Eiertanz hinlegt haben!

Und weil Bahçeli diesen genialen Schachzug, zudem eine kurzfristig durchdachte Lösung anbot, der für niemanden Platz für kontroverse Debatten zulässt, steht jetzt nur noch im Raum, wer nun die Masken zuerst fallen lässt, die man Live verfolgen kann. Wer steht also für was ein, dass steht zur Debatte, und nicht, wer vertritt wessen Interessen?

Interessant ist, dass die Bundeszentrale für politische Bildung, kurz bdp, über Günter Seufert just zu diesem Augenblick ebenfalls eine Antwort erarbeitet hat. In der „Kurdenfrage“, so lautet der Vorspann der Ausarbeitung, bleibe die „kurdische Frage virulent, solange, wie die „Türkei, Irak, Iran und Syrien die kollektive und individuelle Gleichberechtigung der auf ihrem Staatsgebiet siedelnden Kurden ablehnen, werden die Kurden für die Schaffung eines eigenen Staates kämpfen.

Was die „kollektive und individuelle Gleichberechtigung“ bedeutet, wird zuletzt in drei Punkten erklärt, wobei der letzte Punkt anscheinend nicht favorisiert wird, obwohl es die Staatsräson der Türkei ist:

  • Gründung eines oder mehrerer kurdischer Staaten…
  • Gewährung regionaler Autonomie…
  • Gleichberechtigung, Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung…

Trotz der Fortschritte und vor allem wegen dieser Fortschritte seit den 2000er, nicht zuletzt zwischen Ende 2012 bis Mitte 2015, hat die PKK nie die gänzlich die Waffen niedergestreckt, hat die Vorgängerpartei der DEM, die HDP unter der Führung von Selahattin Demirtaş, einen bewaffneten Aufstand für eine kurdische Autonomie ausgerufen, die rasch und blutig endete.

Das heißt in diesem Kontext für die gegenwärtige DEM wie der CHP, wofür sie sich entscheiden, wofür sie wirklich einstehen: einer vereinten Nation oder vereint unter einer fremden Knute!


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.


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