Ein Gastkommentar von Damian Etsch-Zynn – detschzynn@gmail.com
Würden die kaukasischen Staaten die Erzählung „Struwwelpeter“ des Arztes und Psychiaters Heinrich Hoffmann aus dem Jahr 1844 auf einer Bühne nachspielen, würde die Hauptrolle dem Staate Armenien ganz sicher zugesprochen.
Die Rolle des Enfant terrible ist Armenien geradezu auf den Leib zugeschnitten: Am kaukasischen Tisch sitzend kann das unerzogene Kind nicht ruhig sitzen, zupft und zurrt an der Tischdecke, verweigert das Süppchen und schneidet sich nicht die Nägel. Sehr zum Missfallen der übrigen Gesellschaft, die sich gesittet verhält und das Kind mit der auffälligen Verhaltensstörung immer wieder ermahnt.
So ähnlich läuft es in der südkaukasischen Realpolitik ab: Armenien negiert seit seiner postsowjetischen Unabhängigkeit die seit 1921 festgelegte Staatsgrenze zur Türkei und beansprucht halb Ostanatolien, verankert seinen Landhunger gar in der Verfassung, stichelt die Türkei seit hundert Jahren mit der eigenen Version einer Völkermordstory, will aber von eigenen historischen Verbrechen an der türkischen Bevölkerung während der russischen Okkupation Ostanatoliens nichts wissen.
Das winzige Land schwärzt seinen großen Nachbarn in allen Hauptstädten der Welt an, sehr zum Ärgernis Ankaras. Auch mit seinem östlichen Nachbar Aserbaidschan liegt Armenien im Dauerstreit, denn es besetzt seit fast 30 Jahren illegal 20 Prozent von dessen Territorium, verantwortet mit der Vertreibung von einer Million Aserbaidschanern die mit Abstand größte ethnische Säuberung der postsowjetischen Ära, leugnet beharrlich die dutzenden Genozide (wie Hodschali) im besetzten Karabach und will partout nicht verantwortlich sein für die 50.000 Kriegsopfer auf aserbaidschanischer Seite.
Reparationen an Geschädigte? Indiskutabel. Auch mit seinem Nachbarn in Georgien liegt Armenien im Streit, denn es ermutigt die dortige armenische Minderheit sich vom ohnehin bröckelnden georgischen Staatsgebilde loszusagen und, wen wundert’s, sich dem armenischen Staat anzuschließen. Jerewan biedert sich Russland als Außenposten für dessen Militär an und ist sich nicht zu schade von Moskau als Militärbasis missbraucht zu werden.
Dies verursacht verständlicherweise großen Unmut in Georgien, weil man wegen den separatistischen Bewegungen im nördlichen Abchasien und Südossetien wiederum selbst einen Disput mit Moskau hat und nur ungern von der südlichen Flanke her umzingelt werden will. Nur mit dem Iran scheint Armenien beste Beziehungen zu pflegen, man hilft sich in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht.
Nicht um der Völkerverständigung willen, denn darauf pfeifen beide Staaten bekanntlich, sondern aus pragmatischen Gründen getreu dem orientalischen Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“. Denn auch die Islamische Republik Iran hat keine sonderlich guten Beziehungen zu den säkular geführten Staaten Aserbaidschan und Türkei.
Dann ist da noch der marode Kernreaktor Medzamor, den Jerewan stur weiterbetreibt, um die Energieversorgung des nahezu völlig isolierten Landes einigermaßen aufrechtzuerhalten. Für den Preis der Energieautarkie sitzen die Armenier aber auf einem Pulverfass und halten die Nachbarstaaten in Atem.
Nicht nur mit äußeren Problemen hat Armenien zu ringen. Der seit Jahrzehnten anhaltende Investitionsstau, die selbstverschuldete Isolation des Landes, die autokratische Führung ultranationalistischer Regierungen, die um sich greifende Vetternwirtschaft, die überhöhten Militärausgaben und die Besatzungskosten in Karabach, das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, haben Armenien zum politisch und wirtschaftlich rückständigsten Land der Region gemacht.
Infolge dieser fehlgeleiteten Politik hat das Land mit etwa 2,7 Mio. Einwohnern mit einer sehr hohen Arbeitslosenquote zu kämpfen und ist auf finanzielle Almosen der finanzstarken armenischen Diaspora in Übersee angewiesen. Viele junge Armenier verlassen in Strömen das Land, verdingen sich als billige Arbeitskräfte in der im Vergleich wohlhabenden Türkei und tragen mit regelmäßigen Geldtransfers nach Armenien zum Auskommen und Unterhalt ihrer Familien bei. Der Erzfeind Türkei duldet die knapp 200.000 illegalen Arbeitskräfte im Lande als Zeichen des nachbarschaftlichen Goodwill, das Jerewan bis heute nicht gebührend honorieren will. d
Debakel für Armenien: Sicherheitskonferenz in München
Um so größer war die Neugier auf der Münchener Sicherheitskonferenz, die vergangene Woche in der bayerischen Hauptstadt Staatsmänner, Militärs und führende Strategen zusammenbrachte. Ein recht seltenes Treffen sollte auf der Tagung erfolgen: Die Staatspräsidenten der verfeindeten Nachbarn Aserbaidschan und Armenien sollten an einer Podiumsdiskussion teilnehmen und über die schwierigen Beziehungen beider Länder sprechen.
Besonders auf dem armenischen Präsidenten Nikol Paschinjan ruhten die Blicke und die Neugier war groß. Wie würde sich der neu gewählte Präsident der Kaukasusrepublik auf dieser wichtigen Konferenz der Sicherheitspolitik geben, auf der sich das Who-is-Who der internationalen Politik und über die globale Sicherheitsarchitektur der Zukunft austauscht? Die sture Haltung Armeniens in Sachen Außenpolitik hatte sich bekanntlich weder unter dem national-patriotischen Levon Ter-Petrosjan, dem nationalistischen Robert Kotscharjan noch unter dem ultra-nationalistischen Serj Sarkissian kaum geändert.
Der 1975 geborene Journalist Paschinjan schwang sich 2018 zum Führer der außerparlamentarischen Oppositionsbewegung auf bis er, quasi mit einer Abstimmung mit den Füßen, den Umsturz seines Vorgängers Sarkissian bewirkte. Sarkissian stammte aus der von armenischen Truppen besetzten Bergregion Karabach und ist Anhänger der faschistisch-nationalistischen Daschnakbewegung.
Während seiner Amtszeit wurde die politische Isolation des Landes zunehmend intensiviert, die Gesellschaft militarisiert und in permanentem Alarmzustand versetzt. Im Lichte dieser Erfahrungen mit den früheren armenischen Staatshäuptlingen waren die Erwartungen an Paschinjan besonders groß. Würde Paschinjan die Gunst der Stunde ergreifen und auf der Sicherheitskonferenz versöhnliche Worte gegenüber Staatspräsident Alijev finden?
Hatte letzterer doch als Vertreter des geschädigten Aserbaidschans sich bereit erklärt mit dem politischen Vertreter des Aggressors auf einer Bühne Platz zu nehmen. Das erfordert sicher eine gewisse staatsmännische Größe. Beide Führer der verfeindeten kaukasischen Länder nahmen Platz auf dem für sie reservierten Podium, auf der einen Seite der weltweit geschätzte und politisch angesehene Aliyev und auf der anderen Seite der politische Neuling und weitgehend unbekannte Paschinjan.
Wie sich der Führer der armenischen Republik Nikol Paschinjan während der Diskussion gab und auf der größten Sicherheitskonferenz debütierte kann kurz und prägnant zusammengefasst werden: Nicht anders als die unbelehrbaren Quälgeister beim Struwwelpeter. Zwar benahm sich der Herr Präsident anständig und saß relativ still, doch seine Äußerungen zeugten von einem extrem simpel gestrickten Weltbild, unterfüttert mit Stereotypen und kruden Verschwörungstheorien.
Während der Diskussionsrunde kam es natürlich zum Karabach-Konflikt und zu armenischen Gräueltaten an der aserbaidschanischen Zivilbevölkerung. Auf die sachlich-nüchternen und besonnenen Ausführungen des erfahrenen Alijev konterte Paschinjan mit hastigen und unüberlegten verbalen Schnellschüssen.
So behauptete Pachinjan allen ernstes, dass das Hodschali-Massaker eine Erfindung der Aserbaidschaner sei, um die reine Weste der Armenier zu beflecken. Wenn man sich im wirren Kosmos der Verschwörungstheoretiker bewegt hört man von der gefaketen Mondlandung bis hin zum vertuschten UFO-Crash keine absurdere Theorie als die der armenischen Genozid-Leugner, wenn es um die massenhaften Gewaltverbrechen in Karabach geht. Neun Millionen Aserbaidschaner hätten sich konspirativ verschworen, um das Image der Armenier zu beflecken und hätten das Ammenmärchen von Völkermorden und ethnischen Säuberungen in Karabach erfunden.
Dabei gilt der Vorfall in Hodschali als der am besten dokumentierte Genozid der Menschheitsgeschichte, dank der Filmaufnahmen von mutigen Reportern wie Cengiz Mustafayev. Paschinjan trat von einem Fettnäpfchen ins andere. Er wehrte sich gegen die Darstellung, dass Karabach von armenischen Truppen besetzt sei. Ganz im Geiste seiner ultra-nationlistischen Amtsvorgänger beharrte Nikol P. darauf, dass es sich bei der Republik Artsakh (armenisch für Karabach) um einen souveränen Staat handele.
Die armenischen Streitkräfte würden sich nicht in dem „Nachbarstaat“ Republik Artsakh aufhalten, so Paschinjan. Einige Sätze später sprach Paschinjan plötzlich von der Stationierung seines Sohnes im benachbarten Karabach, der dort seinen Dienst an der Waffe macht. Bei der Frage um den rechtlichen Status der Bergregion Karabach holte Paschinjan tief Luft und fing knapp bei Adam und Eva an: Paschinjan wusste zu berichten, dass die Region Karabach schon vor der Geburt Christi der armenischen Nation gehörte (nicht ahnend, dass der moderne Nationenbegriff erst nach dem Westfälischen Frieden von 1648 nach Christi Geburt Gestalt annahm).
Zeitweise zeigte sich Alijev sichtlich amüsiert von dem Fauxpas-Auftritt seines Amtskollegen. Viel musste der gewiefte aserbaidschanische Präsident nicht tun: Genüsslich verfolgte er die eigendynamische Selbstdemontage seines Counterparts. Ein zwei taktische Fragen noch und Paschinjan wirkte endgültig wie ein Schuljunge, der die allmorgendliche mündliche Hausaufgabenkontrolle nicht bestand. Es fehlte im wahrsten Sinne des Wortes nur noch, dass der Studienrat Aliyev den Schüler Paschinjan mit „Setzen, sechs!“ abstrafte und einen Eintrag in das Klassenbuch vornahm.
In Heinrich Herrmanns Struwwelpeter ereilt den uneinsichtigen Kindern ein gar schreckliches Ende: Das Eine verhungert, das Andere verblutet oder verbrennt. Wollen wir hoffen, dass bei der kaukasischen Theater-Aufführung des deutschen Klassikers eine andere, modernere Regieinterpretation zum Zuge kommt.
In Memoriam den Opfern des Hodschali-Massakers, dem letzten Völkermord des 20. Jahrhunderts.
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