Ein Gastbeitrag von Michael Thomas
Im Zuge meines Erwachsenwerdens beschloss ich vor einem halben Jahrhundert, nun endlich die gesamte Geschichte meiner Familie zu erfahren und befragte die letzten verwandten, lebenden und wandelnden Trümmer des letzten Weltkrieges.
Dabei fiel mir der Durchschlag eines Briefes meines Großonkels an die Botschaft des Auswanderungsstaates aus den dreißiger Jahren in die Hände, mit dem er händeringend um die Ausstellung eines Passes bat. Er fühle sich in Deutschland nicht mehr sicher, schrieb er, und sein Vater würde jedes Engagement in dieser Sache für sich und seine Familie verweigern.
Die Antwort der Botschaft war ebenso niederschmetternd wie buchstäblich vernichtend: da der Abstammungsort aufgrund eines Großbrandes im Archiv des betreffenden Ortes über keinerlei Aufzeichnungen mehr verfüge, die die ehemalige Ansässigkeit der Familie dort bestätige, könne man die Staatsbürgerschaft leider nicht durch einen Pass dokumentieren.
Es waren einmal zwölf Familienmitglieder, angeheiratete Personen nicht eingerechnet. Man verfügte über eine ansehnliche Fabrik zur Herstellung von Süßigkeiten, die sogar der Kaiser selbst über alles schätzte und regelmäßig dort einkaufen ließ. Man flanierte in teuren Kleidern in der gehobenen Gesellschaft, nannte ein geräumiges und prächtiges Haus sein eigen, beschäftigte Personal und ging ganz selbstverständlich davon aus, dass es die Nazis wohl nicht so toll treiben würden. Außerdem sei man nicht jüdisch und würde nichts zu befürchten haben.
Das tragische Ende ist schnell erzählt. Die Fabrik ging im Zuge der „Arisierung“ zusammen mit dem gesamten Vermögen zum Teufel, man wechselte in eine billige, aber völlig heruntergekommene Unterkunft und während Hunger einzog, holten sich die Nazis ja doch einen nach dem anderen.
Am Ende hatten nur noch drei Personen den Wahnsinn überlebt. Sie alle waren ohne Ausnahme schwerst traumatisiert. Unter ihnen befand sich meine Großmutter, die als einzige in der Lage dazu war, mir als Kind noch die wahre, tiefe Geschichte meiner Familie mitzugeben. Mein Großonkel war in seiner Vergangenheit gefangen und fand aus den Erfahrungen von Angst, Hunger, Verfolgung und Not nicht mehr heraus.
Er schilderte mir in buntesten Farben, wie er in seiner Arbeitskolonne als Tagelöhner von seinem Kumpel neben ihm die Frage zugezischelt wurde, ob er wohl Victor hieße. Als er bejahte, erfuhr er, dass die SS dort hinten am Werkstor nach ihm gefragt hatte und er zitternd aber schnell durch ein halb verborgenes Loch im Werkszaun für immer verschwand.
Die letzten Monate des Krieges verbrachte er in einem schimmeligen Kellerloch zusammen mit Ratten und dem einen oder anderen Kanten alten Brots, das ihm hin und wieder von einem Mann durch ein Loch zugeworfen wurde.
So wie mein Urgroßvater Christos sein Ende durch seinen Unglauben fand und es auch über seine Familie gebracht hatte, so fanden Hunderttausende von Juden ebenfalls den Tod. Es würde wohl nicht so schlimm kommen, sagten sie sich. Auch wenn man den Nachbarn, Familien- und Gemeindemitglieder abgeholt und nie wieder etwas von ihnen gehört hatte, würde es sie doch wohl nicht treffen.
Viele von ihnen hatten Seite an Seite mit deutschen Kameraden „unterm Kaiser“ im Schützengraben gelegen, manche hatten Orden dafür bekommen, viele Arme oder Beine für Deutschland verloren. Man würde sie doch wohl nicht ….
Es muss ein seltsames Gefühl von Unverwundbarkeit, Unerreichbarkeit gewesen sein, das sie von jedem Gedanken an Flucht ab- und die Angst im Zaum hielt. Manche von ihnen mögen noch bis an die Türen zur Gaskammer an die Versicherungen geglaubt haben, dass man sie lediglich zur Arbeit in einem recht gut versorgten Lager zusammenziehen wolle und längst nicht alle werden, bis der Schuss fiel, als sie reihenweise in Gräben aufgestellt dastanden, daran geglaubt haben, dass er fallen würde.
Vielleicht haben sie sich gefühlt wie ein Soldat, der mit tausenden anderen aus dem Schützengraben aufsprang und mitten ins Maschinengewehrfeuer rannte, während er davon überzeugt war, ausgerechnet ihn würde, könnte es irgendwie gar nicht treffen.
Und heute erlebe ich die Wiederauferstehung dieses Gefühls. Niemand will daran glauben, dass ihn die Vorgänge um Gaza, in den USA und im eigenen Parlament eines Tages selbst erreichen. Ich finde es durchaus verstörend, miterleben zu müssen, wie Hunderttausende, wenn nicht Millionen nicht nur keine Gefahr heraufziehen sehen, sondern sogar auch noch Hoffnung aus diesen Vorgängen ziehen.
Diejenigen, die heute einen Trump und eine AfD wählen, verstehen nicht, dass sie selbst die ersten Opfer sein werden. Sie verstehen nicht, dass der Tod der Palästinenser nichts als ein Auftakt zu einer neuen Weltordnung darstellt, die sie in naher Zukunft selbst ins Visier nimmt.
Wenn ich heute über einen deutschen Friedhof gehe, mustere ich die Aufschriften der Grabsteine und ich frage mich: „War dieser Tote damals Täter? Würde er deine Familie mit Stöcken gejagt und erschossen haben?“, während mir gleichzeitig völlig klar ist, dass sich kein Nazi jemals als „Täter“ gesehen hatte. Nicht der SS-Offizier, der seine Soldaten die Gewehre für Erschießungen durchladen ließ, noch der Bauer, der die Tür vor einem hungernden Juden auf der Flucht donnernd zuschlug.
Wie damals auch, so kriechen auch heute wieder Millionen unter die dicke „Ich habe nichts gewusst! Das habe ich nicht gewollt!“ – Decke und sprechen sich in stillschweigendem Übereinkommen gegenseitig von jeder Schuld frei. Sowenig wie damals tragen auch heute längst nicht alle Täter Uniform; sie finden sich wieder einmal sowohl als gutgelaunte Hausfrau beim Einkaufen, die sich von der Szene nicht stören lässt, in der neben ihr einer Frau unter Johlen gewaltsam ein Kopftuch heruntergerissen wird, als auch im ignoranten Beamten, der eher gelangweilt mal wieder eine Abschiebungsanweisung unterzeichnet und weitergibt.
Sie sind alle wieder da, die sich damals auf ihrem Zwangsbesuch in einem Konzentrationslager angewidert von den Leichenbergen abwandten und empört flüsterten, sie hätten angeblich von nichts etwas gewusst oder auch nur geahnt. Sie alle, die damals wie heute wieder nur zu gern und bereitwillig all die Erzählungen und Erklärungen geglaubt haben, weshalb diese und jene Menschen verfolgt und getötet werden müssten und im Glauben, sie selbst würde solches nie erfahren müssen, sondern nicht weniger von ihnen rufen sogar nach noch mehr Verfolgung und Vernichtung.
Ich bin in der Mitte derjenigen aufgewachsen, die nur noch leise und heimlich davon sprachen, dass es immer noch viel zu viel Juden gäbe und sie schon wieder frech würden, weil sie schamlos offen über die Straßen gingen. Und ich lebe heute wieder in der Mitte derjenigen, die alles Arabische ganz offen und laut für frech, brutal, rückständig und verschlagen halten.
In Gaza und im Westjordanland erleben wir heute, wie eine Vernichtungswelle ein ganzes Volk zusammenschießt, in den USA sollen nach dem Willen des neuen Präsidenten Massedeportationen mit Eisenbahnzügen und Lastwagen stattfinden und in Deutschland kräht eine ganz offen hasserfüllte „Partei“, sie wolle das gleiche.
Spätestens heute sollten wir das „Prinzip Hoffnung“ aufgeben; die Menschheitsgeschichte lehrt uns, dass nur noch eine möglichst geregelte Flucht Schonung verspricht. Die deutsche Schriftstellerfamilie Mann hatte die Zeichen der Zeit damals noch rechtzeitig erkannt und verstanden, wann der Moment gekommen war, ab welchem kein Entgegenstemmen mehr funktionieren konnte.
Heute gefragt, würde ich grundsätzlich jedem Deutschen „mit Migrationshintergrund“ dazu raten, sich irgendwie eine Existenz außerhalb des Landes aufzubauen und fortzugehen. Ich glaube ernsthaft, dass die Welle in Deutschland beispielsweise unaufhaltsam zu unerträglichen Zuständen für sie führen wird.
Selbst, wenn Friedrich Merz demnächst den Kanzler stellen sollte, wird eine Mitregierung der AfD sehr wahrscheinlich sein. Und Merz zufolge soll jemandem die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt werden, wenn er straffällig werden oder die Knie nicht vor dem israelischen Staat beugen sollte. Das ist haarsträubend und maximal bedrohlich. Joseph Göbbels wäre begeistert.
Wir sind zurück in den dreißiger Jahren.
Wer klug ist, geht.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.