Ein Gastbeitrag von Ahmet Inam
Im Jahre 622 wanderte der Prophet Muhammad (s.a.s.) nach Medina aus, wo er von der Stadtbevölkerung wohlwollend und herzlich aufgenommen wurde. Nach islamischen Überlieferungen suchten vor der Auswanderung einige Medinenser den Propheten auf, bekannten sich zum Islam und baten ihn, in ihre Stadt zu kommen.
Die Stadt Medina, zu diesem Zeitpunkt noch Yasrib/Yathrib genannt, war eine Oasenstadt, in der verschiedene arabisch-polytheistische und jüdische Stämme lebten. Die Stadt war bis dato von den Stammesfehden betroffen, an denen alle arabischen und jüdischen Stämme in Medina beteiligt waren. Die Medinenser baten den Propheten bei diesen nicht wenigen kriegerischen Auseinandersetzungen und Streitigkeiten als Richter zu fungieren. Der Prophet akzeptierte die Einladung und das medinensische Angebot und wartete noch in Mekka, bis die Muslime – die unter ständiger Angst leben mussten, nicht gefoltert oder getötet zu werden – Mekka verlassen hatten, bevor er schließlich mit seinem Freund Abu Bakr nachzog.
Nach seiner Ankunft in Medina übernahm der Prophet die Funktion des Richters, wobei er zuvor auch darum gebeten worden war. Durch die Aufstellung eines Vertrags, welcher den Parteien ihre Rechte und Pflichten zusicherte, gelang es dem Propheten, die Streitigkeiten zu beenden. Der „Vertrag von Medina“ kann als Beispiel für eine lange historische Tradition (bis in die Neuzeit) herangezogen werden. Dieser Vertrag wurde zwischen Muslimen, polytheistischen Arabern und jüdischen Stämmen geschlossen.
Des Weiteren konnten auch christliche Stämme, die nicht in Medina ansässig waren, in den Vertrag einbezogen werden, sofern sie mit einem der in Medina ansässigen Stämme eine Übereinkunft getroffen hatten. In Kontrast zur medialen Darstellung in Kinofilmen oder Serien war die Stadt Medina zu diesem Zeitpunkt noch nicht muslimisch. Die Mehrheit der Bevölkerung bestand weiterhin aus polytheistischen Arabern, die im weiteren Verlauf der Prophetie in Medina – entweder einzeln oder mit ihrem Stamm – den Islam annahmen.
Muhammad, der Prophet des Islams, schloss einen Vertrag mit jüdischen und polytheistischen Stämmen. Die Bevölkerung, welche dem Vertrag zustimmte, wurde von Muhammad als „Umma“ bezeichnet. Eine Umma, die sich aus Muslimen und Nichtmuslimen zusammensetzt, welche sich dazu verpflichtet hatten, sich gegenseitig zu schützen. Bei einem Vertragsbruch wurde die Schwere der Schuld sowie eine etwaige Wiederholung des Vergehens berücksichtigt und im Einzelfall eine Trennung von der Umma vollzogen.
Die Abgrenzung erstreckte sich jedoch nicht auf die gesamte Religionsgemeinschaft, sondern lediglich auf die Personen oder Stämme, welche die Übereinkunft zwischen ihnen missachtet hatten. Infolge des bereits erwähnten Vergehens wurden einige jüdische Stämme aus der Stadt verbannt, während andere jüdische Stämme weiterhin in Medina verblieben. In Konsequenz dessen wurde nicht die gesamte jüdische Gemeinschaft verbannt, sondern lediglich die schuldigen Stämme. Aus diesem Grund ist es weder intelligent, wissenschaftlich noch seriös, aus diesem historischen Ereignis ein Beispiel für „muslimischen Antisemitismus“ abzuleiten.
Des Weiteren kam es zu Vertragsbrüchen durch einzelne Muslime, die unrechtmäßig gegen Juden handelten. In diesen Fällen entschied der Prophet zugunsten der Juden und bestrafte die schuldigen Muslime. Diese Informationen sowie zahlreiche weitere Belege für Toleranz und Schutz gegenüber Andersgläubigen lassen sich in den islamischen Quellen finden, welche seit 1400 Jahren von Generation zu Generation überliefert werden und(!) in der Praxis Anwendung finden.
Das Wort Umma wurde später für die islamische Gemeinschaft verwendet, zunächst mit dem Zusatz „islâmî = islamisch“, dann allein. Der Prophet tat dies jedoch nicht. Der Prophet war der Prophet einer Religion (al-Islam = Der Islam), die seit dem ersten Menschen existiert und bis zum letzten Menschen auf Erden (im Universum) existieren wird. Er ist der letzte Prophet in einer langen Reihe von Propheten, zu denen auch viele jüdische Propheten gehören, und der Glaube an sie ist ein Glaubensgrundsatz für alle Muslime.
Er war ein Prophet, der den Zwang zum Glauben verbot, ja sogar den Eltern verbot, ihre nichtmuslimischen Kinder und Jugendlichen zum Islam zu zwingen. So konnte von einer muslimischen Stadt Medina, in der auch Angehörige anderer Religionen lebten, anfangs nicht die Rede sein. Erst gegen Ende der Prophetenzeit, als die arabischen Stämme den Islam ganz oder weitgehend annahmen, kann man von einer muslimischen Stadt sprechen. Und erst unter dem Kalifat Umars wurden die jüdischen Stämme aus Medina umgesiedelt, und zwar nicht außerhalb des muslimischen Reiches, sondern in eine andere Stadt innerhalb des muslimischen Kalifats, wo sie jahrhundertelang in Frieden und Sicherheit lebten.
Wenn es um Religion/religiöse Angelegenheiten geht, waren und sind die Handlungen des Propheten immer bindend. Die Entscheidung, eine Umma zu gründen, in der alle Angehörigen verschiedener Religionen in Frieden und Sicherheit leben können, ist eine gottgewollte Handlung und spiegelt den Islam sehr gut wider. Obwohl die islamische Gemeinschaft in ihren Anfängen vorwiegend aus arabischen Muslimen bestand, gehörten ihr auch Einzelpersonen und später verschiedene Stämme aus unterschiedlichen Völkern an. Zu dieser Gemeinschaft gehörten nicht nur Männer, sondern auch Frauen, die aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnahmen und es mitgestalteten.
Die Muslime in dieser Umma waren eine Gemeinschaft, die (auch mit ihren Fehlern, Sünden und ihrer Reue) vorbildlich für die nachfolgenden Generationen war, die für die Menschheit Großes im Bereich der Menschenrechte und der Kriegsführung geleistet hat, die aber auch in ihren menschlichen Eigenschaften und Begierden verfallen konnte. Dies gehörte jedoch nie zu seinen Verfehlungen: Hass und Vernichtungswahn gegen eine ganze Religionsgemeinschaft, gegen ein ganzes Volk! Selbst die Kharidschiten, die ersten radikalen Splittergruppen, die um die Mitte des ersten muslimischen Jahrhunderts auftraten, hart und gewalttätig gegen andersdenkende Muslime vorgingen und sogar Gefährten des Propheten ermordeten, betrachteten die Schriftbesitzer (damals: Juden, Christen, Zoroastrier) als Anvertraute des Propheten und schützten sie!
Im weiteren Verlauf der muslimischen Geschichte gab es Kriege, Diskriminierungen gegen andere Völker oder gegen andersdenkende Muslime, aber nie im „europäischen Stil“ wie in verschiedenen Jahrhunderten in Amerika (Ausrottung der Indianer), im Nahen Osten (Kreuzzüge, Kolonialismus) oder in Europa selbst (Dreißigjähriger Krieg, Holocaust). Der Grund? Das Wort Gottes (Koran) und auch das Vorbild des Propheten (auserwählt als Barmherzigkeit für die Welten), das es immer gab und geben wird und das immer Vorrang haben wird vor allem radikalen Handeln und Denken, das es durchaus auch unter Muslimen gibt und geben kann!
Seit der europäischen Kolonialisierung sind Muslime mit den Folgen und Nebenwirkungen des Kolonialismus, mit den Veränderungen der Lebens- und Denkweisen unter dem Einfluss der Moderne und mit ihren eigenen historischen und aktuellen Fehlern und Entscheidungen konfrontiert. Die daraus resultierenden Ergebnisse und Handlungen sind in einigen Fällen (wie DAESH, ISIS) sicherlich nicht islamisch, auch wenn Teile der säkularen Presse, Wissenschaft und Politik genau diese als „islamisch/islamistisch“ propagieren, um ihr Feindbild aufrechterhalten zu können.
Die oben genannten Informationen, die Haltung des Propheten und viele andere Fakten können in den Büchern der islamischen Wissenschaften gefunden werden. Dort finden sich freilich auch Beispiele, die uns heute fremd erscheinen und als Negativbeispiele wahrgenommen werden können. Aber dieser „Widerspruch“ lässt sich leicht mit einer einfachen Formel auflösen: Man muss die islamische Geschichte und den Propheten als Ganzes betrachten.
Als Ganzes betrachtet, erscheint ein Prophet, der in den 23 Jahren seiner Prophetenschaft selbst diese nur 30 (!) Kriegstage seines Lebens lieber mit Friedenstagen getauscht hätte. Es kommt ein Prophet zum Vorschein, der die Regeln des Krieges festlegte, lange bevor Europa sich vom „inter arma enim silent leges: Unter Waffen schweigen die Gesetze“ lösen konnte, und der Tod und Folter von Kindern, Frauen, Alten, Geistlichen, Flüchtlingen und Kriegsgefangenen verbot.
Ein Prophet tritt auf, der die Schwachen und Behinderten schützt und sie sogar zu Kommandanten oder Marktaufsehern macht. Ein Prophet, der dem Diesseits wenig Beachtung schenkte, es aber nicht völlig ablehnte. Ein Prophet, der Sklaven befreite und ganze Armeen von Kriegsgefangenen freiließ. Ein Prophet, der Machogehabe tadelte und stets zu Sanftmut und Feingefühl riet. Ein Prophet, der Frauen stets als gleichberechtigt in der muslimischen Gemeinschaft ansah und sie auch zur gesellschaftlichen Teilhabe ermutigte. Ein Prophet, der nicht durch Zwang und Gewalt erfolgreich war, sondern durch seine Güte und Barmherzigkeit, durch seine Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit. Und nehmen wir für einen Moment an, dass all dies nur „Ausschmückungen der Geschichte“ sind, so ändert dies nichts an der Tatsache, dass nachfolgende Generationen von muslimischen Völkern und Gelehrten an diese „Ausschmückungen“ geglaubt und sie gelebt haben!
Bei einer Betrachtung der Geschichte der Muslime als Ganzes kann festgestellt werden, dass die Muslime auf ihre Geschichte bis zum 20. Jahrhundert stolz sein können. Dies gilt trotz der Tatsache, dass es auch Unrechtsakte gegenüber Andersgläubigen gab, insbesondere jedoch gegenüber andersdenkenden Muslimen. Im Großen und Ganzen haben muslimische Herrscher und Völker ihren Propheten als Vorbild genommen und Frieden, Sicherheit und Toleranz vorgelebt.
Die jüdische Existenz wurde nicht nur im Orient, sondern auch in Europa bewahrt, ebenso wie die mehrerer christlicher, buddhistischer und hinduistischer Existenzen im Orient und Asien. Und da Muslime verpflichtet sind, an die Thora und das Evangelium sowie an die Psalmen zu glauben, verpflichtet sind, an die jüdischen Propheten zu glauben, und diese Verpflichtungen bis zum Jüngsten Tag gelten, kann von einem Irrsinn namens „islamischer Antisemitismus“ überhaupt nicht die Rede sein. Daran ändert auch der Antisemitismus mancher Muslime nichts, die offensichtlich gegen die islamische Lehre denken und handeln.
Die islamische Geschichte der Toleranz ist eine Tatsache, die weder von radikalen Muslimen noch von Politikern, Geschichtsrevisionisten oder sogenannten Experten und auch nicht von einer künstlichen Intelligenz geleugnet werden kann. Sie findet sich im Koran, in den Überlieferungen und in den Abertausenden von Geschichtsbüchern und theologischen Werken.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.
Zum Autor
Dr. Ahmet Inam ist Islam- und Religionswissenschaftler. Er promovierte 2015 an der Frankfurter Goethe-Universität am „Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam“ mit dem Titel „Die theologischen, juristischen und sozialen Dimensionen der Sünde im Koran“. Er ist Autor des Buchs „Der Islam – Eine Binnenperspektive“ (Ditibverlag, 2020).