Ein Gastbeitrag von Michael Thomas
Vor vielen Jahren traf ich im südägyptischen Assuan eines Abends zufällig einen jungen Mann, der offenbar von meiner Leidenschaft für seine Heimat völlig fasziniert war. Er selbst hatte viele Jahre im Kreise der Familie in Deutschland verbracht und wie diese auch keine allzu große Meinung von Ägypten.
Ich berichtete ihm bei Tee und Shisha bis tief in die Nacht von dem Zauber, den die Geschichte seiner Heimat auf mich ausübte und hochinteressiert fragte er mich, ob er mich auf meinen Exkursionen begleiten dürfe. Gern sagte ich zu. Er nahm mir die Mühe, ein Taxi zur Anlegestelle für die Überfahrt zur Tempelinsel Philae zu besorgen, ab und am nächsten Morgen bereits ging es los.
Auf der Insel angekommen, verwendete ich mit ausnahmsweise missionarischem Eifer mein gesamtes Fachwissen auf ihn und erläuterte ihm, was er dort entdeckte. Mit wachsender Begeisterung trat er von einer Wandinschrift zur anderen, setzte um, was ich ihm erklärt und gezeigt hatte und berührt stellte ich fest, dass sich ihm eine völlig neue Welt erschloss.
Er konnte nicht genug bekommen; seine Augen glänzten und sein Blick auf den Tempel war ein ganz anderer geworden. Mich bewegte es sehr, als er bei unserem Abschied meine Hand in seine beiden nahm und sich wortreich dafür bedankte, dass ich ihm die Geschichte seiner Heimat geschenkt hätte. Dass er Dinge erfahren und durch mich erleben und empfinden durfte, die ihm sonst verschlossen geblieben wären.
Karim steht für mich für das allgemeine Erwachen des ägyptischen Volkes. Mich haben viele Reisen an den Nil geführt, ich habe die gewaltigen Umbrüche miterlebt und über all die vielen Jahre bemerkte ich eines ganz deutlich: die Menschen dort bemühen sich heute um ihre eigene Geschichte. Ein neues Gefühl, ein neuer Blick findet sich in ihren Augen wieder.
Wenn sie heute vor den gewaltigen Pyramiden Gizehs stehen, dann fühlen sie, dass es die Hände, die Herzen und die Träume ihres Volkes, ihrer eigenen Vorfahren waren, die das erschaffen hatten. Gerade jetzt, wo die Zeiten besonders schwer für die Ägypter sind, brauchen sie diesen Stolz ganz besonders.
Das war nicht immer so. Mir war auf meinen ersten Reisen tatsächlich aufgefallen, dass Ausländer den weitaus größten Teil der Besucher von Museen, Monumenten und Ausgrabungen stellten. Das hat sich deutlich wahrnehmbar verändert.
Und jetzt kommt der gedankliche Sprung vom Nil nach Berlin.
Dort dämmert eine altägyptische Ikone, die Büste der Königin Nofretete in einem riesigen, kalten, steingrauen Saal in gedämmtem Licht. Sie gehört dort nicht hin, sie ist fremd dort und kaum jemand versteht sie, auch wenn jeder von ihrer beinahe überirdischen Schönheit bezaubert ist.
Ich will mich an dem Streit, ob ihr Erwerb, ihre Entührung vor hundert Jahren rechtmäßig geschah oder ein Betrug unter Lügen war, nicht beteiligen, denn das ist letztlich unerheblich. Auf diese Weise kann man um einen Diamanten, eine Amphore, einen Tierknochen streiten, aber nicht um einen Gegenstand wie diesen. Diese Büste ist nämlich keineswegs irgendein Gegenstand.
Diese Büste entfaltet ihren ganzen Wert nur dem, der sie versteht. Und wer sie verstehen will, der wird an den Nil reisen und sich mit der Zeit befassen müssen, für die sie steht und in der sie geschaffen worden ist.
Ihre Schönheit beruht auf der vollendeten Harmonie ihrer Züge, auf dem Schwung ihrer Konturen, die mit großer Wahrscheinlichkeit direkt ihrem lebendigen Vorbild Nofretetes selbst gleichen und faszinierenderweise dadurch mit einer jahrtausendealten Tradition in der altägyptischen Kunst brechen. Der Bildhauer Thutmosis vollendete in dieser Büste das Revolutionäre, dass ihr Ehemann, der König Ankh-Aton, genannt Echnaton, in Szene gesetzt hatte und was als „Amarna-Kunst“ Bekanntheit erlangte.
Im Fieber dieser kurzen Periode entwickelte sich in Ägypten ein ganz neuer, künstlerischer Stil eines gewissen Realismus, der mit allem brach, was jahrtausendelang vorher streng beachtet und bewacht worden war. Darstellungen des Königs selbst wirken geradezu verstörend unschmeichelhaft; sie zeigen einen Mann mit dickem Bauch, breiten Hüften und einem langgezogen Gesicht. So, wie er realistisch dargestellt worden war und wohl auch tatsächlich aussah, so wird die Büste der Nofretete mit hoher Wahrscheinlichkeit recht genau ihrer realen, äußeren Erscheinung gerecht. Nicht umsonst bedeutet ihr Name übersetzt: „Die Schöne ist gekommen!“.
Man kann diese Büste nicht verstehen, wenn man ihre Zeit und ihr Land weder kennt, noch verstehen lernt. Man muss mit einem Schiff, am besten mit einer kleineren Feluke, den Nil befahren, den Kindern am Ufer beim Bad und Fußballspiel zusehen, die Wasserbüffel beim Trinken betrachten und das Süße des Abenwindes wittern, der spätabends über den Fluss geht. Erst, wenn man über Märkte geht, fröhlich um eine Ledertasche vielleicht feilscht, mit Ägyptern zusammen isst und plaudert, findet man überhaupt erst einen Zugang zur ägyptischen Kunst.
Denn all diese Dinge haben sich in den letzten sechstausend Jahren nicht verändert. Das Toben der Kinder in den Straßen ebensowenig wie das Schimpfen der Mütter, der Staub, den der Wind mit sich trägt, die heiße Sonne oder der geheimnisvolle Fluss. Wer das einmal erlebt hat, fühlt und versteht richtig, was er in altägyptischer Kunst dargestellt sieht.
Auf einer meiner Reisen begegnete ich tatsächlich einem deutschen Studenten der Ägyptologie, der das Land noch nie zuvor bereist hatte. Trotz mehrfacher, vorsichtiger Nachfrage, wie man sich speziell für dies Fach entscheiden könne, wenn man vorher buchstäblich nichts darüber wusste, verstand ich seine Beweggründe nicht. Aber ich beobachtete, wie ihn die Magie Ägyptens „vor Ort“ vollends in den Bann schlug und wie er mich, den Laien, in meiner Begeisterung verstehen lernte und dies Gefühl teilte.
Wir erhielten Gelegenheit, die prächtigen Wandmalereien eines kurz zuvor entdeckten Königsgrabes exklusiv bewundern zu dürfen, das bis heute nur Forschenden zur Verfügung steht und für die Öffentlichkeit gesperrt ist. Da sah ich in seinen Augen, dass das Fieber vollständig von ihm Besitz ergriffen hatte. Jahre später schickte er mir seine Doktorarbeit. Es heißt nicht umsonst in einem altägyptischen Sprichwort: „Wer einmal von den Wassern des Nils trank, kann seinen Durst nie wieder woanders stillen.“
Erst, wenn man sich den titanenhaften Pyramiden gegenüberstellt und in ihre tiefen Gänge kriecht, kann man darauf hoffen verstehen zu lernen, was man im Gesicht der Büste der Nofretete finden kann. Die Kunst der Alten Ägypter ist eine abstrahierende Symmetrie in Form einer entrückten Sprache, die man lesen lernen muss. Verwirrenderweise äußert sie sich in einer Reduktion auf Wesentliches, während sie gleichzeitig die Weite einer Idee darstellt.
Und dann fühlt man das Tragische im jetzigen Aufenthaltsort der Nofretete. Sofort wird einem klar, dass sie dort nicht hingehört und mit diesem Wissen und diesem Herz wird man erst die Träne sehen, die ihr unsichtbar über die Wange läuft. Es ist nicht wichtig, ob sie dort in Berlin rechtmäßig oder unrechtmäßig steht. Wenn man in Ägypten das moderne Land besucht und die Monumente aus tiefer Vergangenheit betrachtet, dann weiß man, dass Nofretete zurück nach Hause reisen muss. Ihre Umgebung stößt ihre Prinzipien ab, sie korrespondiert in keinster Weise mit ihr und missachtet ihre Herkunft vollständig.
Sie ist kein Diamant, sie ist weit mehr als das. Kein Gold, kein Gips, kein Stein, nicht Farbe und überhaupt kein Gegenstand. Sie ist mehr als nur eine Darstellung einer Königin und sie ist auch keine „Botschafterin“, wie sie Prof. Dr. Wildung nannte, um ihr Verbleiben in Berlin zu rechtfertigen. Sie ist ein Stück Ägypten selbst, sie hat einen festen Platz im Herzen ihres Volkes – und sie gehört dorthin. Nicht in einen kalten, dämmerigen und steingrauen Raum im fernen Norden. Wenn sich eine Ente mit einer Pfauenfeder schmückt, wird aus ihr kein Pfau.
Wenn Deutschland eine kultivierte und kultursensible Nation sein will, so wird man Nofretete zurück in ihre Heimat lassen. Dorthin, wo sie eben weit mehr ist als nur ein Stück hübsch geformten und angemalten Gipses und ihr Zauber weit mehr strahlt als nur ihre Schönheit. Denn wenn es den Verweigerern ihrer Rückkehr nur um ihre Schönheit geht, dann bietet die moderne Technik exzellente Möglichkeiten, sie auf das Genaueste zu kopieren.
Deutschland hat keinen einzigen, triftigen Grund, unbedingt das Original besitzen zu müssen. Es wurde von deutscher Seite aus argumentiert, angeblich sei die Büste nicht transportfähig, aber das halte ich persönlich für einen vorgeschobenen Vorwand. Wenn man selbst die Mumie des Ramses des Großen mit einem Flugzeug zur Strahlenbehandlung nach Paris bringen konnte und sogar allen Ernstes zum Zwecke der Einreise eigens einen Reisepass für ihn erstellte, ihm bei der Landung in Form des Großen Protokolls mit militärischem Salut die Ehre eines Monarchen gewährte und Seine Majestät wohlbehalten zurück nach Ägypten brachte, dann sollte der Transport einer Büste kein Problem darstellen.
Prof. Dr. Zahi Hawass mag als Mensch nicht unumstritten sein, seine Sachkompetenz als ägyptischer Archäologe, der über viele Jahre überaus erfolgreich gearbeitet hat, ist es nicht. Ebensowenig wie seine Leidenschaft dafür, außer Landes gebrachte Artefakte heim zu holen, was ihm tausendfach gelang. Ihm und seinem Herz für die Geschichte seiner Heimat ist es zu verdanken, dass viele Fundstücke heute wieder zurück in Ägypten sind. Sein Bestreben, natürlich auch die großartige Nofretete wieder zurück in ihre Heimat zu führen, ist daher nur zu unterstützen.
Der Blick der Nofretete gleitet heute über ein Land, das sie nicht kennt, mit dem sie nichts verbindet, in dem sie keine Geschichte hat. Nur die wenigsten ihrer Betrachter verstehen sie und ihre umfassende, tiefe Bedeutung. Sie hat in Deutschland nichts zu suchen, dort ist sie zum Wert einer Beute, einem eifersüchtig wie starrsinnig bewachten Schatz herabgesunken.
Wenn sich eine Ente mit einer Pfauenfeder schmückt, wird aus ihr keine Ente.
Lasst die Königin heim reisen! Ich würde darauf Wetten abschließen, dass Hunderttausende ihren Weg ins neue Museum bei Kairo säumen, Fahnen schwenken, singen und vor Glück weinen würden. Niemand außerhalb Ägyptens braucht diese Büste dieser ebenso schillernden wie rätselhaften und bedeutungsschweren Königin Nofretete. Ägypten braucht sie.
Und Deutschland wäre eine Kulturnation.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.