Ein Gastkommentar von Michael Thomas
Eine ganze Zeit sah es so aus, als habe das Wahlkampfteam um Harris kaum Mühe, sie sicher ins Ziel zu tragen. Die Zeichen standen gut. Alles, was zu tun war, beschränkte sich auf die Mühe, den US-amerikanischen Wähler vor der Möglichkeit zu warnen, dass ihr Gegner Donald Trump eine erneute Präsidentschaft antreten könnte, wenn sie nicht gewählt würde.
Diverse Geplänkel und Wortgefechte konnte sie für sich als Erfolge verbuchen, denn Trump unterlag erwartungsgemäß, obschon er Gift und Galle spuckte. Ihm schadete, wenn auch nicht über alle Maßen, dass die unter extremen Republikanern beliebte und von ihm vertretene Agenda „Project 2025“ an die Öffentlichkeit gehievt wurde, die einige höchst besorgniserregende Passagen enthält.
Das Papier fand in wesentlichen Punkten Aufnahme in das Wahlprogramm der Republikaner und hat zum Ziel, durch einschneidende Maßnahmen die Macht des US-Präsidenten erheblich zu vergrößern (1). Trump selbst hat sich zwar lautstark gegen „Project 2025“ ausgesprochen, dennoch verortet man viele seiner einstigen Mitarbeiter und Berater unter den Autoren des Papiers.
Wenn man den Umfragen folgt, so dominieren drei Hauptthemen das Interesse des Wählers im Wahlkampf: Wirtschaft, Migration und Abtreibung.
Inhaltlich bietet Trump in Sachen Wirtschaft Steuererleichterungen für Unternehmen, bei der Migration seine bekannte, rechtsextreme Absicht, sie möglichst zu verhindern und in Bezug auf die Abtreibung scheint er einerseits seiner evangelikalen Wählerschaft verpflichtet und ahnt andererseits, dass die rigorose Forderung nach einem totalen Verbot empfindlich Wählerstimmen kosten kann. Bei diesem Thema schlingert er und versucht sich möglichst nicht festzulegen oder festlegen zu lassen.
Harris hingegen verspricht, subventionierte Programme zur Erleichterung des privaten Häuserbaus zu erstellen und beabsichtigt, Unternehmenssteuern auf 28 Prozent anheben zu wollen. Dies spricht weite Teile der eher linksliberalen Wählerschaft an, die seit der Finanzkrise wirtschaftliche Probleme haben. Schon als Vizepräsidentin hatte sie die Migrationsfrage von Biden geerbt, die er einfach an sie delegiert hatte.
Sie setzte auf eine „weiche“ Lösung und förderte jenseits der US-Grenze Beschäftigungsprogramme, um lokal das Interesse am Fortgang einzudämmen. Bisher ist hier noch kein durchschlagender Erfolg zu verzeichnen, was die Republikaner zu gehässigen Bemerkungen veranlasste. Aber Harris‘ Bemühungen sind langfristig angelegt und können sich auch erst in einigen Jahren bemerkbar gestalten.
Das hätte theoretisch die tagesaktuelle Lage im Wahlkampf sein können.
Harris‘ Wahlkampfteam sah sich sowohl gut aufgestellt, als aber auch deutlich auf der Überholspur. Rhetorisch hat Trump keine Schnitte gegen sie, die zentralen Themen sind besetzt und hätten hoffen lassen können, dass das Programm der Demokraten deutlich punktet. Man sprach bereits von einer „Kamalamania“ und in den Umfragen zog sie überzeugend an Trump vorüber, was diesen und sein Team vorübergehend geradezu panisch werden ließ.
Aber jetzt ist Gaza.
Harris‘ Kalkül für dies Thema geht nicht auf. Sie hatte gehofft, dass der noch amtierende Präsident Biden daran vielleicht politisch vollständig verbrennt, aber bis zur Wahl noch ein Ende des Krieges moderieren könnte oder würde. Sie konnte davon ausgehen, ihren eigenen Wahlkampf, ihre eigene Agenda damit nicht belasten zu müssen.
In Umfeld ihrer Unterstützer ist gerade jetzt eine erbittert geführte und von Beleidigungen frankierte Streiterei zwischen schwarzen Feministinnen und pro-palästinensischen Stimmen ausgebrochen, wie die Kolumnistin Karen Attiah von der Washington Post besorgt und frustriert feststellt (2).
Jetzt fliegt ihr das Thema um die Ohren und sie legt einen seltsamen Eiertanz hin. Während sie einerseits dem Dogma der eigenen Regierung, Israel würde sich ja nur verteidigen, hätte das Recht dazu und man müsse Israel schützen, verpflichtet ist, muss sie andererseits sowohl der pro-palästinensischen und der Wählerschicht Hoffnung auf Veränderung machen.
Wird sie in die Enge gedrängt, reduziert sie pampig die Gaza-Frage auf das Problem, ob man lieber Trump zum Präsidenten wolle, wenn man sie nicht unterstütze. Das wirkt, gelinde gesagt, etwas verstörend und reduziert die Wahrnehmung, sie drücke angeblich Empathie für die Menschen von Gaza aus, auf reine Wahltaktik.
Harris liegt zwischen Mühlrädern; während sowohl die mittel- wie nahöstliche zusammen mit der US-Presse ernüchtert längst unterstellt, dass sie auch als gewählte Präsidentin den Gaza-Krieg weder beenden, noch Israel zum Einlenken zwingen kann und wird, muss sie die Wähler unbedingt zurückgewinnen, die sich gerade davonmachen.
Und dass sie dies tun, haben die Demonstranten beim DNC, beim Democratic National Congress, soeben beeindruckend unter Beweis gestellt. Sie marschierten zu Tausenden auf und drangen ins Kongressgebäude ein. Die Demokraten konnten gerade noch rechtzeitig die auf sie gerichteten Scheinwerfer abschalten, um noch unangenehmere Videos unmöglich zu machen. Der Kongress tagte in Chicago. Ausgerechnet. In Chicago lebt die größte palästinensische Community der USA.
Harris versuchte, sich im Wahlkampf als eingeöltes Würmchen geschickt durch die Finger des Themas hindurchzuwinden – und wird gestellt. Selbst die Versuche, pro-palästinensische, kriegskritischen Stimmen durch Verweigerung von Redezeit dieser Abgeordneten auf dem DNC zu verweigern, wird mit großer Wahrscheinlichkeit nach hinten losgehen. Mit dem verzweifelten Mut „Nun erst Recht!“ nimmt diese Bewegung weiter Fahrt auf und verspricht, omnipräsent zu werden (4).
Der DNC, abgehalten, um triumphierend einen Nagel durch den Vorsprung in den Umfragen zu schlagen, entwickelte sich zu einer Enttäuschung – und die Umfragen beginnen, sich erneut Trump zuzuwenden (5).
Hatte sich bereits vor Monaten infolge der riesigen Enttäuschung über die uneingeschränkte Solidarität Joe Bidens Israel gegenüber mit klarem Blick auf die Präsidentschaftswahl im diesjährigen November scherpunktmäßig in den muslimischen Communities die „#AbandonBiden“-Kampagne gegründet, stellt diese jetzt auf ihrer page gar direkt die Frage, ob aus ihr in naher Zukunft die „#AbandonHarris“-Kampagne werden müsse (6). Nach Schätzungen leben in den USA etwa 8,1 Muslime, die 2,1 Prozent der Bevölkerung stellen, aber genaue Zahlen liegen nicht vor. Zusammen mit der gesamten pro-palästinensischen, jüdisch-antizionistischen und israelkritischen Bewegung könnten sie bei einem Kopf-an-Kopf-Rennen den Ausschlag geben.
Wie die Zeichen stehen, befinden sich die aktuellen Waffenstillstandsverhandlungen in Kairo und Dohar kurz vor dem endgültigen Scheitern und es wird und kann der Biden-Regierung nicht gelingen, dafür der Hamas die Schuld in die Schuhe zu schieben. Längst ist die Taktik Netanyahus, die Verhandlungen mit immer neuen, jetzt tatsächlich völlig für die Hamas inakzeptablen Bedingungen zu torpedieren, öffentlich und auch US-Vertreter zeigen diesbezüglich Wirkung durch massive Verärgerung.
Gelingt es dem amtierenden Präsidenten nicht, den Krieg zu beenden, wird seine Nachfolgerin ihn zwangsläufig nicht nur erben, sondern möglicherweise durch weitere Eskalationen politisch explodieren sehen. Längst ist das Bekenntnis in den USA, Israel in jedem erdenklichen Fall auch militärisch vor den Folgen seines Tuns zu beschützen, zum Dogma geworden.
Und Donald Trump hat auch kein Problem damit. Man kann im Fall seiner Wiederwahl erwarten, dass die Auslöschung Gazas dann in wenigen Wochen vollendet sein wird. Es wäre nicht weiter verwunderlich, wenn nicht nur US-Waffen, sondern auch Soldaten unter Israels Flagge zum Einsatz kämen.
Der US-Wähler kann also nun frei zwischen Pest und Cholera wählen. Es ist gleichgültig, wo er sein Kreuz setzt, die USA werden in jedem Fall nichts an ihrer Strategie Israel gegenüber verändern.
- https://www.bbc.com/news/articles/c977njnvq2do
- https://www.washingtonpost.com/opinions/2024/08/19/harris-gaza-palestinians-israel/
- https://thehill.com/homenews/administration/4837433-harris-convention-gaza-israel/
- https://www.bbc.com/news/articles/cn473n92k9no
- https://www.fr.de/politik/trump-sieht-ploetzlich-wieder-einen-silberstreif-am-horizont-demokraten-parteitag-daempft-harris-begeisterung-93254658.html
- https://abandonbiden24.com/
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