Start Panorama Ausland Mittelmeer-Tragödie Mit den Menschen sterben Menschlichkeit und Glaubwürdigkeit im Mittelmeer

Mittelmeer-Tragödie
Mit den Menschen sterben Menschlichkeit und Glaubwürdigkeit im Mittelmeer

Es wirkt schon grotesk, wenn man die Zeitleiste der Ereignisse rund um das entsetzliche Drama der vielen hundert Toten im Mittelmeer betrachtet

Greichischer Grenzschutz rammt Flüchtlingsboot. (Archivfoto: Screenshot TRT)
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ein Gastbeitrag von Michael Thomas

Es wirkt schon grotesk, wenn man die Zeitleiste der Ereignisse rund um das entsetzliche Drama der vielen hundert Toten im Mittelmeer betrachtet, so wie es der Sender Al-Jazeera (Quelle) untereinander schreibt. Nach wenigen Augenblicken glaubt man verstört, es müsse die Rede von mindestens zwei Fischerbooten sein, die beide jeweils durch vollkommen unterschiedliche Phänomene plötzlich sanken.

Als Quelle zieht Al-Jazeera Nawal Soufi heran, der von Italien aus für die Organisation „Alarm Phone“ arbeitet und telefonischen Kontakt zu Passagieren des fraglichen Fischkutters hatte. Auch die Aussagen der griechischen Küstenwache nebst solcher von zufällig in der Gegend anwesenden, anderer Schiffe werden in eine zeitliche Reihenfolge gebracht.

Einige zentrale und für das Verständnis des Unglücks maßgebliche Punkte werden völlig unterschiedlich voneinander dargestellt. So behauptet die Küstenwache, das Schiff habe die ganze Zeit über gute Fahrt gemacht und Hilfsangebote mit der Begründung, man wolle Italien erreichen, abgelehnt. Soufi von „Alarm Phone“ jedoch entnahm mehreren, direkten Telefonaten mit Passagieren, das Schiff sei möglicherweise durch Maschinenschaden unbeweglich.

Allen Aussagen ist jedoch tatsächlich einheitlich zu entnehmen, dass alle beteiligten Behörden erstens sehr frühzeitig von der Anwesenheit und dem katastrophalen Zustand des Schiffes informiert waren und es zweitens sehr genau mit Helikoptern und Schiffen beobachtete. Infolgedessen scheint extrem verwunderlich, dass das Schiff kentern und mehrere hundert Menschen dem Tod des Ertrinkens aussetzen konnte, ohne das zeitnah wirkungsvolle Hilfe geleistet wurde.

Hier liegt der Verdacht überaus nahe, dass die Aussagen der griechischen Küstenwache mit den tatsächlichen Ereignissen nichts zu tun haben. Und es gibt eine ganze Menge guter Gründe, sie auch nicht allzu ernst zu nehmen.

Seit nunmehr Jahren ist die Technik der „push-backs“ bestens bekannt. Nicht nur die griechische Regierung, sondern auch eine ganze Liste weiterer Länder hat überhaupt kein Problem damit, mehr oder weniger offen auch den Tod von Migranten zu riskieren, wenn sie sie auf ihrem Territorium entdecken und häufig mit brutalen Methoden zurückstoßen.

So ist der EU besonders ein spezielles Video äußerst unangenehm, das öffentlich wurde und zeigt, wie Migranten, die im Mai 2023 den Weg glücklich auf die griechische Mittelmeerinsel Lesbos geschafft hatten, von Mitarbeitern der Küstenwache zusammengetrieben wurden. Man setzte sie auf ein Floß und stieß dies zurück ins Meer.

Wie in solchen Fällen üblich, hält Berlin dazu eisenharte Funkstille ein – und taucht ab. Nicht die Brutalität der „push-backs“ ist der deutschen Regierung unangenehm, sondern nur, dass sie öffentlich dokumentiert, wie die EU Migranten loswerden will. Denn selbstverständlich weiß sie, dass sie hiermit zweifellos gegen Menschenrechte verstößt, aber diese Menschenrechtsverletzungen geschehen in ihrem Interesse. Die EU ist keineswegs motiviert, „push-backs“ zu unterbinden, sondern empfindet lediglich das Bekanntwerden als unangenehm.

Annalena Baerbock polterte vor Kameras noch Mitte letzten Jahres, als wieder einmal „push-backs“ in Griechenland zum Tode vieler Menschen führten, man wolle jetzt aber wirklich eine Untersuchung, es solle angeblich lückenlos aufgeklärt und natürlich unterbunden werden – aber das war nichts als ein leeres Lippenbekenntnis zur Beruhigung der Bürger durch die Medien. Unternommen wurde … nichts.

Ganz im Gegenteil unterstützt Frontex, die europäische Grenzsicherung, die auch mit deutschen Schiffen und Flugzeugen vor Griechenland im Einsatz ist, „push-backs“ durch ganz eigene Erblindung. So filmte ein Frontex-Flugzeug, wie die griechische Küstenwache ein Flüchtlingsboot auf See zur türkischen Grenze schleppte, statt die Menschen darauf in Griechenland zu retten und zu versorgen.

Als das Filmmaterial bekannt wurde, setzte Frontex diese Luftüberwachung aus. Die offizielle Begründung, die Maschinen würden woanders gebraucht, hält einer handschriftlichen Notiz auf einem Protokoll der Frontex-Führung nicht stand. Diese Notiz besagt, man müsse vermeiden, „Zeuge solcher Vorgänge“ zu werden.

Frontex hat nicht etwa die Aufgabe, Migranten zu retten, sondern, sie zu entdecken und zu melden. Dabei hat Frontex Sorge dafür zu tragen, nicht zu beobachten, wie sie nach ihrer Entdeckung zurückgestoßen und somit häufig Misshandlungen oder dem sicheren Tod überantwortet werden.

„Wo kein Kläger, da kein Richter!“ – wenn die Menschen auf offener See zu Tode kommen und es keine Berichte oder Augenzeugen dafür gibt, verschwinden sie vollständig von der Bildfläche. Deutschland leidet nicht unter den vielen Tausend Toten, sondern nur dadurch, dass ihr Sterben bekannt wird.

Es ist keinesfalls auszuschließen, dass Frontex-Schiffe auf offener See möglicherweise sogar das Feuer auf solche Schiffe eröffnen und sie gezielt vollständig versenken. Wenn zu diesem Verdacht die EU aufheulen und behaupten würde, dass sie derartiges niemals täte, so wäre dies eine vielleicht völlig substanzlose Behauptung. Vielleicht auch nicht.

Das Bekanntwerden der Vorgänge in Libyen sind der EU bereits unangenehm genug. Sie mussten leider in Medien Berichte lesen, die ganz offen von der Sklaverei, Zwangsprostitution und willkürlichen Erschießungen von Migranten berichteten, die in Libyen bei ihrem Fluchtversuch gefasst worden und in von der EU finanzierten Lägern interniert worden waren. Wohlgemerkt: nicht etwa die Toten schmerzen die EU, sondern nur der Umstand, dass ihr Leid öffentlich wird.

Um das Sterben und Leid der Menschen nicht mehr im Mittelmeer, sondern irgendwo auf Land stattfinden zu lassen, versucht man nun Tunesien mit größeren Geldsummen für ein ähnliches Vorhaben zu kaufen. Die tunesische Regierung wendet sich empört mit der Begründung ab, man werde sich nicht für die EU zum Polizisten machen lassen. Ob sie bei ihrer Haltung bleibt, oder sich vom angebotenen, wachsenden Geldhaufen doch noch kaufen lässt, ist noch nicht sicher.

Sicher ist nur, dass die EU den tausendfachen Tod auf dem Meer zumindest achselzuckend und gleichgültig hinnimmt, wenn nicht sogar ihn begrüßt und gar fördert.

Migranten kosten eben nur und bringen kein Geld.

Diesem Schiff samt der vielen hundert Toten im Mittelmeer werden noch viele folgen.


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.

Zum Autor 
Michael Thomas ist Privatier, Fotograf, leidenschaftlich an Ägyptologie und Literatur interessiert, mit der er vor vielen Jahren als Autor regional einige Beachtung fand. Er verfolgt interessiert das Weltgeschehen durch Beobachtung internationaler Presse. Seinen Fokus legt er insbesondere auf die Palästinafrage und auf die islamische Welt.