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Kommentar
Was steckt hinter der griechischen Aufrüstung von Inseln im Ägäischen Meer?

Mit der Militarisierung von 23 Inseln begeht Griechenland systematischen Rechtsbruch. Die Ankündigung, die Hoheitsgewässer in der Ägäis stufenweise auf 12 Seemeilen ausweiten zu wollen, provoziert Athen einen Konflikt mit der Türkei.

Das Ägäische Meer mit der griechischen Insel Chios im Hintergrund (Foto: Selkarde)
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Ein Gastbeitrag von Kemal Bölge

Immer wieder kommt es in der Ägäis (Adalar Denizi) zu Spannungen zwischen Griechenland und Türkiye über 23 Inseln, die nach dem Vertrag von Lausanne (1923) und Paris (1947) unter der Auflage eines Militarisierungsverbots Athen überlassen wurden. Darüber hinaus geht es um Hoheitsansprüche zur See, in der Luft und um den Festlandssockel, aus dem sich Ansprüche zur Erforschung und Ausbeutung des Meeresbodens (Ausschließliche Wirtschaftszone) ergeben, die sich außerhalb der nationalen Gewässer beider Staaten befindet.

Athen tritt internationales Recht mit Füßen

Diesmal sorgte die Lieferung von 40 taktisch gepanzerten Radfahrzeugen auf die griechischen Inseln Lesbos (Midilli) und Samos (Sisam) für Wirbel. Aufnahmen von Aufklärungsdrohnen der türkischen Marine zeigen, wie die erwähnten Militärfahrzeuge an den Häfen ausgeschifft wurden. Mit der Stationierung von gepanzerten Fahrzeugen, militärischen Gerätschaften und größeren Truppenkontingenten auf diesen Inseln tritt die griechische Regierung seit Jahrzehnten internationales Recht mit Füßen.

Wegen Aufrüstung griechischen und amerikanischen Botschafter einbestellt

Die Vereinigten Staaten haben nach Medienberichten die Militärfahrzeuge der griechischen Armee kostenlos überlassen. Das türkische Außenministerium hatte wegen der Vorkommnisse den Botschafter Griechenlands und der USA einbestellt und übergab diesen eine Protestnote, in dem Athen aufgefordert wird, sich an die Verpflichtungen aus dem Vertrag von Lausanne und Paris zu halten. Der Regierung des US-Botschafters wurde aufgefordert, „Waffen nicht unter Verletzung“ des vereinbarten Status der Inseln zu liefern.

Die Remilitarisierung dieser Inseln begann bereits in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, aber Athen ignoriert konsequent beide internationalen Verträge und weigert sich seinen rechtlichen Verpflichtungen sowie Verantwortung nachzukommen. An Ausreden scheint es Griechenland nicht zu fehlen, denn es argumentiert, dass die zu demilitarisierenden Inseln aus „Selbstverteidigung“ aufgerüstet würden, und verweist auf angebliche Landungsflotten der türkischen Marine.

Der Lausanner Vertrag von 1923 schuf zwischen beiden Ländern ein politisches Gleichgewicht, das allerdings am 17. September 1936 mit der einseitigen Ausweitung der Territorialgewässer Athens von 3 auf 6 Seemeilen aus dem Lot geraten ist. Vor der Ausweitung auf 6 Seemeilen betrug der Anteil des Mare Liberum (Offene See) im Ägäischen Meer 71 Prozent und mit der Extension konnte die griechische Regierung die nationalen Gewässer um 25 Prozent steigern. Türkiye hatte zunächst auf eine Ausweitung der nationalen Gewässer verzichtet, aber 1964 ebenfalls nachgezogen.

In Anlehnung an die internationale Seerechtskonvention, dem Türkiye nicht beigetreten ist, hat Griechenland angekündigt seine nationalen Gewässer auf 12 Seemeilen auszudehnen. Tatsächlich erlaubt Artikel 3 der Konvention die eigenen Territorialgewässer auf maximal 12 Seemeilen auszudehnen, allerdings schreibt Artikel 123 eine „Zusammenarbeit der Anliegerstaaten von umschlossenen und halbumschlossenen Meeren bei der Ausübung ihrer Rechte und der Erfüllung ihrer Pflichten aus dieser Konvention“ vor.

Die Bezeichnung halbumschlossenes Meer trifft auf das Ägäische Meer zu. Anders ausgedrückt benötigt Athen die Zustimmung von Türkiye, wenn es, wie in der Seerechtskonvention hinsichtlich der Kooperation der Anliegerstaaten vorgeschrieben, seine Gewässer ausweiten möchte. Der griechische Außenminister Dendias bezeichnete den Anspruch Griechenlands auf 12 Seemeilen als „souveränes Recht“ Athens und man sei nicht verpflichtet, darüber mit irgendeinem Staat Verhandlungen zu führen.

Genau hier liegt das eigentliche Problem der Thematik, weil Athen mit der Ankündigung zur Ausweitung versucht die geltenden Grenzen der territorialen Hoheitszonen zu verschieben. In einer Entscheidung des griechischen Parlaments hatte diese am 1. Juni 1995 die Ausweitung der Hoheitsgewässer auf 12 Seemeilen beschlossen, das Recht zur Anwendung jedoch offengelassen. Das türkische Parlament hatte ebenfalls 1995 im Falle einer Ausweitung der griechischen Hoheitsgewässer in der Ägäis auf 12 Seemeilen die türkische Regierung dazu ermächtigt, alle notwendigen Maßnahmen einschließlich militärischer Art zu ergreifen.

Ausweitung griechischer Hoheitsgewässer in der Ägäis hätte weitreichende Folgen

Der Anteil der internationalen Gewässer in der Ägäis beträgt zurzeit 48,4 Prozent, der griechische 39,3 Prozent, der türkische 7,4 Prozent und 0,5 Prozent sind unbewohnte Eilande und Felsen, die Griechenland in den Verträgen von Lausanne und Paris nicht überlassen wurden, aber von Athen zum Teil besetzt hat. Wenn Griechenland seine Hoheitsgewässer in der Ägäis auf 12 Seemeilen ausweitet, würde der griechische Anteil der nationalen Gewässer auf 70 Prozent steigen und der Anteil der freien Gewässer auf unter 20 Prozent fallen.

Internationale Seerechtskonvention: Recht darf nicht zum Nachteil eines anderen Staates angewandt werden

Im Januar 2021 hatte das griechische Parlament die Ausweitung seiner nationalen Gewässer im ionischen Meer von 6 auf 12 Seemeilen beschlossen und nach den Worten von Ministerpräsident Mitsotakis die Ausweitung auch in anderen Regionen angekündigt. Nach Artikel 300 der internationalen Seerechtskonvention dürfen Staaten die durch die „Konvention hergeleiteten Rechte, Hoheitsbefugnisse und Freiheiten nicht in einer Weise ausüben, die einen Rechtsmissbrauch“ darstellt.

Hier geht es vor allem um die Anwendbarkeit der Seerechtsübereinkunft in der Ägäis, die aus mehr als 3.000 großen und kleinen Inseln besteht und vor der türkischen Festlandsküste vorgelagert sind. Aus der Seerechtskonvention geht nicht hervor, dass Griechenland seine Hoheitsgewässer in der Ägäis per se auf 12 Seemeilen ausdehnen darf, da es nach Artikel 123 verpflichtet ist, mit den Anliegerstaaten – in diesem Fall Türkiye – in Verhandlungen zu treten. Ferner darf es die Rechte aus dem Vertrag nicht in der Weise interpretieren, die zum Nachteil eines Nachbarstaates werden kann.

Türkische Position zum nationalen Luftraum stimmt mit der Chicagoer Konvention überein

Ein weiterer Streitpunkt zwischen beiden Ländern ist der nationale Luftraum, wobei Griechenland durch einen 1931 erlassenes Präsidialdekret für sich einen Luftraum mit einer Breite von 16 Kilometern (10 Seemeilen) jenseits der eigenen Küstenlinien beansprucht. Ankara erkennt einen Luftraum mit einer Breite von 10 Kilometern (6 Seemeilen) an, was der Breite des nationalen Seegebiets entspricht.

Nach dem Chicagoer Abkommen über die Zivilluftfahrt von 1944 hat der Luftraum die gleiche Längsausdehnung wie die Summe des Land- und Seeraums, das staatlicher Souveränität unterliegt. Immer wieder beschuldigt Athen Ankara, türkische Kampfflugzeuge hätten griechischen Luftraum überflogen, was von türkischer Seite dementiert wird, weil Türkiye nur 10 Kilometer Luftraum als Hoheitsgebiet anerkennt. Die türkische Position hinsichtlich des Luftraums orientiert sich an dem Chicagoer Abkommen über die Zivilluftfahrt.

Aufgerüstete Inseln stellen für die Türkiye eine militärische Bedrohung dar

Mit der Remilitarisierung der ostägäischen Inseln begeht Griechenland eindeutig Rechtsbruch, weil es die Souveränität über die zu entmilitarisierenden Inseln unter diesem Vorbehalt erhalten hatte. Diese aufgerüsteten 23 Inseln stellen für die Türkei eine militärische Bedrohung dar. Eine durch Griechenland einseitig vorgenommene Ausweitung der Territorialgewässer versteht die Türkei als einen Angriff in ihre Souveränitätsrechte. Athen beansprucht für seinen Luftraum 10 Seemeilen, obwohl in der Ägäis die nationalen Gewässer 6 Seemeilen betragen. Die Diskrepanz zwischen Luftraum und Territorialgewässern ist ein Novum und als griechisches Paradoxon zu betrachten.

Ausdehnung der griechischen Territorialgewässer im Ägäischen Meer hätte schwere Folgen für die unbeschränkte internationale Schifffahrtsfreiheit

Eine Ausweitung der griechischen Hoheitsgewässer auf 12 Seemeilen hätte für die internationale Schifffahrt dramatische Folgen, denn mit einer Ausweitung wäre die unbeschränkte internationale Schifffahrtsfreiheit auf hoher See („Freiheiten der Hohen See“), wie in der Seerechtskonvention geregelt, nicht mehr gewährleistet.

Ein Schiff müsste beispielsweise bei den griechischen Behörden eine Erlaubnis einholen, bevor es durch griechische Gewässer fahren dürfte. Die Position Türkiyes zu den Hoheitsgewässern in der Ägäis setzt sich für eine unbeschränkte internationale Nutzung der Schifffahrtsfreiheit aus, das es als Transportroute für den internationalen Handel genutzt wird.

Hinter der Ankündigung von Ministerpräsident Mitsotakis, die eigenen Hoheitsgewässer in der Ägäis zu gegebener Zeit auf 12 Seemeilen ausweiten zu wollten, steckt das Kalkül, Türkiye in einer Ausnahmesituation – zum Beispiel in einem Zweifrontenkrieg – vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Äußerung des griechischen Ministerpräsidenten Mitsotakis stimmen mit der von Ex-Außenminister Nikos Kotzias überein, der während seiner Amtszeit von einer Ausweitung in drei Schritten sprach.

Parteinahme der EU für Griechenland und amerikanische Waffenlieferungen an Athen tragen zur Verschärfung der Spannungen bei

Aus historischer Perspektive betrachtet gelang es Griechenland seit seiner Gründung 1830 mit Unterstützung der damaligen Großmächte Großbritannien, Russland und Frankreich sein Hoheitsgebiet um ein Vielfaches, zum Nachteil des Osmanischen Reiches, zu erweitern. Während der Fokus von EU und der Vereinigten Staaten zurzeit auf dem Russland-Ukraine-Krieg liegt, tragen Äußerungen von EU-Verantwortlichen, die zugunsten Griechenlands Partei ergreifen, nicht zu einer Deeskalation der Spannungen zwischen beiden Nachbarstaaten bei, und auch der Ausbau von amerikanischen Militärstützpunkten Griechenland sowie die Lieferung von modernen Waffensystemen an Athen haben den Effekt, die Krise weiter zu verschärfen.

Die derzeitigen Spannungen haben nicht nur mit dem Anspruch Griechenlands zu tun, seine nationalen Gewässer in der Ägäis auf 12 Seemeilen ausweiten zu wollen, sondern auch mit Öl- und Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer, um die es seit einigen Jahren Streit unter den Anrainerstaaten gibt. Durch Provokationen im Ägäischen Meer versucht Athen die Aufmerksamkeit der Türkei von der Levante zu nehmen.

Eine kriegerische Auseinandersetzung an der Südostflanke der NATO hätte weitreichende Folgen. Es käme wahrscheinlich zu einer Schwächung des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses, die sich auch in der Eskalation von regionalen Konflikten niederschlagen könnte. Es kann nicht im Interesse der EU und seiner Mitgliedsstaaten sein, wenn Griechenland ankündigt seine Gewässer auf 12 Seemeilen auszudehnen und dabei die Freiheit der Meere, also die internationale Schifffahrt, massiv beeinträchtigt wird. Hinter der Ankündigung der griechischen Regierung zur Ausweitung der nationalen Gewässer im Ägäischen Meer stecken expansionistische Pläne zur Erweiterung des eigenen Territoriums.

Erschienen auf TRT Deutsch


Kemal Bölge, studierter Politologe und Historiker. Ressortleiter Balkan bei der Forschungseinrichtung für Mezalim. Er schreibt zudem als freier Autor für verschiedene Online-Publikationen. Seine Schwerpunkte sind die Außen- und Sicherheitspolitik, insbesondere die Beziehungen EU-Türkei, die zukünftige Struktur der NATO und die Außen- und Sicherheitspolitik der Türkei.


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