In der Nacht auf den 19. Februar 2020 erlebte Deutschland einen der grauenvollsten Tage in seiner jüngeren Geschichte. Bei dem rechtsterroristischen Anschlag auf zwei Shisha-Bars in der hessischen Stadt Hanau kamen insgesamt elf Menschen ums Leben. Nun jährt sich der Amoklauf zum zweiten Mal. NEX24 sprach darüber mit dem deutsch-türkischen Politikberater und Autor Yasin Baş.
NEX24: Sehr geehrter Herr Baş, wie konnte es zu so einer rassistischen Mordtat in Hanau kommen?
Yasin Baş: Nach dem Terroranschlag von Hanau wurden die Gründe für die rassistische Tat, wie fast immer nach solchen Taten, breit diskutiert. Allerdings ging die Politik und Gesellschaft ziemlich schnell wieder an die Tagesordnung über. Es ist eigentlich traurig, dass sich erst an den Jahrestagen solch abscheulicher Ereignisse die Möglichkeit ergibt, das Thema Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wieder in den Fokus zu rücken.
Reflexartige Schuldzuweisungen an Neo-Nazis oder rechtsradikale Parteien wie die Alternative für Deutschland (AfD) sind mir zu plump und einseitig. Rufe nach einer konsequenten Beobachtung der AfD oder anderen rechtsextremistischen Zusammenschlüssen durch den Verfassungsschutz oder gar ein Verbot sind gut und schön. Doch ist es nicht zu einfach, die Schuld an diesem gesamtgesellschaftlichen Problem des antimuslimischen Rassismus an eine einzige Partei, neo-nazistischen Organisationen oder gar Einzelpersonen zu delegieren?
Der Attentäter Tobias Rathjens hatte lange in einer Schützengesellschaft trainiert und auch seine rassistischen, türken- und islamfeindlichen Ansichten waren im Internet nachzulesen. Er war mehrmals polizeilich in Erscheinung getreten. Als Opfer suchte sich Rathjens gezielt deutsche Jugendliche mit Einwanderungsbiographien aus. Neun junge Menschen aus Hessen verloren so ihr Leben. Der Mordanschlag von Hanau war kein Angriff auf Migranten, sondern vielmehr ein Angriff auf Deutschland. Denn auch diese Jugendlichen standen für Deutschland.
NEX24: Sie vertreten also die These, dass die Morde von Hanau ein Anschlag auf Deutschland waren?
Yasin Baş: Ja, genau. Der Angriff richtete sich gegen unsere gemeinsamen Werte, das Miteinander und den Frieden in unserem Land. Hanau war ein Wendepunkt in der jüngeren Geschichte Deutschlands. Dieser Anschlag war in mehrfacher Hinsicht ein Angriff auf Deutschland. Denn bei den Ermordeten handelte es sich um deutsche Jugendliche. Auch wenn manche von ihnen Vorfahren hatten, die vor Jahren und Jahrzehnten aus anderen Ländern nach Deutschland eingewandert waren. Sie waren Deutsche. Sie hießen: Fatih, Sedat, Gökhan, Vili, Kaloyan, Mercedes, Ferhat, Hamza, Said und Gabriele. Man mag denken, diese Namen hören sich gar nicht so deutsch an. Das ist ein gewaltiger Trugschluss.
Es mag an uns vorbeigegangen sein: Deutschland ist in den letzten 60 bis 65 Jahren so vielfältig und bunt geworden, dass genau diese Namen mittlerweile auch in Deutschland geläufige Namen sind. Zumindest müsste die Gesellschaft so weit sein, diese Namen als einheimisch und nicht fremd zu akzeptieren. Die Realität mag teilweise noch eine andere sein. Manche Menschen wollen oder können diese Veränderungen nicht wahrhaben. Sie können natürlich weiterhin Scheuklappen tragen und so weiterdenken. Das ist ihr gutes Recht.
Aber Deutschland entwickelt sich voran. Wir leben nicht im 18. Jahrhundert, wo der Austausch von Waren, Dienstleistungen und Menschen begrenzt war. Mit anderen Worten: Es reicht nicht aus, nur die Namen der Opfer des Attentats von Hanau auszusprechen. Diese Namen stehen stellvertretend für alle fremd klingenden Namen in Deutschland und sollten auch in breiten Kreisen akzeptiert werden. Auch das gehört zu einem modernen Einwanderungsland.
Genauso wie Alexander, Marvin und Tobias oder Marie, Julia und Sandra gehören auch Fatih, Mehmet, Andrzej, Lorenzo, Amira, Fatma, Allegra, Ljudmila, Amelia und Ylva zu Deutschland. Das sind inzwischen auch deutsche Namen. Daran müssen wir uns nicht nur gewöhnen, wir müssen dies auch als Normalität auffassen. Viele Menschen in unserem Land, zum Teil auch Politiker*innen und Medienvertreter*innen, halten die Opfer von Hanau immer noch für „Migranten“.
Es reicht, sich Zeitungsartikel oder Einträge im Internet zum Thema anzusehen, um dies zu erkennen. Solange sich diese Einstellung nicht ändert, werden wir es nur schwer schaffen, eine gesellschaftliche Einheit gegen Rechtsextremismus und Rassismus zu bilden. Dann haben es die Menschenfeinde leicht, uns gegeneinander aufzuwiegeln und zu spalten. Eine gesellschaftliche Einheit muss zuerst in den Köpfen und Herzen entstehen. Erst dann kann das weltoffene Gesicht Deutschlands wieder erstrahlen.
NEX24: Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Yasin Baş: In den vergangenen Jahren waren unser Zusammenleben, unsere Demokratie und unser Rechtsstaat in Deutschland vielerlei Gewaltangriffen und Herausforderungen ausgesetzt. Die NSU-Mordserie, die Ermordung von Walter Lübcke, Anschläge auf Moscheen und Friedhöfe, der Anschlag auf die Synagoge in Halle und das Attentat in Hanau, alle diese brutalen, rechtsextremen Terrorakte richteten sich gegen unser Zusammenleben und unser Gesellschaftssystem in unserem Land.
Diese heimtückischen Attacken haben Deutschland mitten ins Mark getroffen. Die Zahl der politisch motivierten Kriminalität erreichte im vergangenen Jahr erneut einen neuen Höchststand seit Einführung der Statistik im Jahr 2001. Mehr als die Hälfte der erfassten Straftaten waren rechtsmotiviert. Auch nach Einschätzung von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) geht die größte Bedrohung in Deutschland derzeit von Neo-Nazis aus. Die Ministerin, die bis Ostern ein „Aktionsplan gegen Rechtsextremismus“ erarbeiten möchte, verdient jede Unterstützung. Sie sehen: Aus solchen traumatischen Ereignissen wie dem Anschlag von Hanau lassen sich auch neue Chancen ergeben.
NEX24: Wie können Sie so ein rassistisches Attentat denn als eine Chance bezeichnen? Das sollten Sie unseren Lesern erklären.
Yasin Baş: Auch wenn es sich möglicherweise paradox anhören mag: Hanau kann auch als eine Chance begriffen werden. Es kann eine Chance sein für eine stärkere Verbundenheit und ein besseres Miteinander der Menschen in diesem Land. Es kann eine Chance sein, Vielfalt und Verschiedenheit als Normalität zu begreifen und zu akzeptieren. Und es kann eine Chance sein, nicht nur nach „Wir“ und „Ihr“, nach „den Deutschen“ und „den Migranten“, „den Christen“ und „den Muslimen“ zu unterscheiden.
Wenn wir es schaffen, in unserem Denken und Handeln soweit voranzukommen, also nicht mehr zwischen ethnischen, religiösen oder sonstigen gruppenspezifischen Merkmalen zu unterscheiden, werden es die Polarisierer, Spalter und Menschenfeinde umso schwieriger haben. Lassen Sie uns diese Chance, die durch das Attentat von Hanau entstanden ist, gemeinsam nutzen. Erst wenn wir diese Gelegenheit geschlossen wahrnehmen, werden rechte und linke Rassisten sowie andere Menschenfeinde verzweifeln. Dann werden sie es nicht mehr schaffen, unsere freie Gesellschaft mit Angst, Hass, Hetze und Gewalt zu spalten und unser freiheitlich-demokratisches System auszuhöhlen.
NEX24: Rassismus ist also nicht nur ein Problem von Rechtsradikalen und Neo-Nazis?
Yasin Baş: Neo-Nazis, Rassisten und Menschenfeinde entwickeln sich nicht urplötzlich zu Verbrechern. Sie haben eine Vergangenheit. Sie haben ein soziales, berufliches und familiäres Umfeld. Sie sind Mitglieder in Vereinen und Organisationen. Sie können unsere Nachbarn und Arbeitskollegen sein. Ja, sie können sogar Verwandte oder Familienmitglieder sein. Sie können im selben Fußballteam mit einem spielen. Was ich sagen möchte: Rassisten und Menschenfeinde kommen nicht nur aus den Rändern, sondern auch aus der gesellschaftlichen Mitte. Und um diese Mitte müssen wir uns als demokratische Gesellschaft sorgen. Diese Mitte dürfen wir nicht den Spaltern überlassen.
Forschungen zeigen, dass rechtspopulistische, muslimfeindliche, rassistische und menschenverachtende Gedanken und Überzeugungen immer weitere Teile der gesellschaftlichen Mitte erfassen. Seit dem Jahr 2006 erforschen Wissenschaftler in den sogenannten Mitte-Studien, wie weit sich autoritäre, rassistische, rechtspopulistische und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland ausbreiten. Dazu gehören nicht zuletzt die Akzeptanz einer Diktatur, Antisemitismus, Rassismus, die Relativierung des Nationalsozialismus oder die Verachtung von Geflüchteten, Sinti und Roma. In den Ergebnissen dieser Studien wird erkennbar: Rechtspopulistische und abwertenden Einstellungen gegenüber Muslimen und sogenannten Asylsuchenden nehmen in den letzten Jahren kontinuierlich zu.
Zuletzt sollten wir uns selbst fragen: Wie weit sind wir und wie weit sind unsere Gedanken von Hass, Angst vor dem Fremden und Intoleranz infiziert? Fragen wir uns selbst genug, in welche Richtung sich unsere Dorfgemeinschaft, unsere Stadt, unser Bundesland oder Deutschland bewegt? Rassismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es geht uns alle an und es betrifft uns auch alle.
NEX24: Sehr geehrter Herr Baş, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Yasin Baş ist Politologe, Historiker, Autor und freier Journalist. Zuletzt erschienen seine Bücher: „Islam in Deutschland – Deutscher Islam?” sowie „nach-richten: Muslime in den Medien”.
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