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Kommentar: Das Gülen-Netzwerk ist nach wie vor aktiv

Die türkische Regierung baut offensichtlich Sicherungen ein, um auch in Zukunft unabhängig und souverän zu bleiben. Dabei bedient sich die türkische Regierung derselben Strukturmechanismen wie die der transatlantischen Verflechtungen in Europa, die damit eine strategische Sicht verfolgen.

(Foto: nex24)
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Ein Gastbeitrag von Nabi Yücel

Die türkische Regierung baut offensichtlich Sicherungen ein, um auch in Zukunft unabhängig und souverän zu bleiben. Dabei bedient sich die türkische Regierung derselben Strukturmechanismen wie die der transatlantischen Verflechtungen in Europa, die damit eine strategische Sicht verfolgen.

Seit dem gescheiterten Putschversuch versucht die türkische Regierung mit Hochdruck, das weitverzweigte Netzwerk der Gülen-Bewegung aus den innersten Organen des Staatsapparats zu entfernen. Hunderttausende landeten von einem auf den anderen Tag auf der Straße, wurden in Untersuchungshaft gesteckt, verurteilt, befinden sich auf der Flucht oder sind bereits im Exil. Letzteres bereitet Ankara offensichtlich weiterhin Kopfschmerzen. Derart, dass die diplomatischen Kanäle u.a. emsig daran arbeiten, auch entlegene Gülen-Netzwerke in Drittländern verfolgen zu lassen und ihre Finanzquellen trocken zu legen.

Dabei leidet vor allem die innertürkische Rechtsstaatlichkeit, da die nationalen Gerichte und Verfolgungsbehörden damit völlig überfordert sind. Das macht sich insbesondere beim Fall des Kulturmäzen Osman Kavala bemerkbar. Ob Osman Kavala mutmaßlich die Interessen der Türkei konterkariert oder gar an umstürzlerischen Machenschaften beteiligt war, steht noch nicht fest. Fest steht nur, wenn man sich die türkischen Medien und die vielen Stimmen innerhalb der Opposition oder Regierung anhört, dass dem Kulturmäzen vor allem die Nähe zu ausländischen Stiftungen und Persönlichkeiten über dem Atlantik vorgehalten wird. In all diesen Mutmaßungen schwingt stets die Meinung mit, über Kavala habe man eine indirekte Einmischung und Beeinflussung der Türkei zum Ziel gehabt.

Osman Kavala, so scheint es, war entweder zur falschen Zeit am falschen Ort oder tatsächlich darin involviert, den Volksentscheid zu revidieren. Das werden letztlich die türkischen Gerichte entscheiden müssen. Die Türkei braucht jedenfalls  und verlangt auch keine Sonderbehandlung, sondern die konsequente Einhaltung des Völkerrechts. Die türkische Regierung hat stets unterstrichen, für konstruktive Kritik offen zu sein. Konstruktiven Einfluss auf den Prozess gegen Osman Kavala zu nehmen, ist im Völkerrecht dann verbindlich, wenn es z.B. über den Europarat – dessen Mitglied die Türkei ist – oder aber über diplomatische Kanäle erfolgt.

Völlig inakzeptabel war z.B. das Vorgehen der 10 westlichen Botschafter, die nicht in eigener Person einen Appell an die türkische Justiz richteten. Selbst wenn Sie mit ihrem Anliegen recht hätten, was offenkundig unzutreffend ist, hätte die Türkei als Bündnispartner nicht mit solch einer Inszenierung brüskiert werden dürfen. Man muss jedenfalls den weiteren Verlauf des Prozesses abwarten. Osman Kavala kann derweil jede Haftverlängerung mit einem Urteil durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) überprüfen lassen. Ein fallbezogenes Urteil des EGMR kann jedenfalls nicht auf einen anderen Fall angewendet werden, was den 10 Botschaftern sehr wohl bewusst war.

Die türkische Generalstaatsanwaltschaft wirft Osman Kavala jedenfalls aktive Beteiligung an verfassungswidrigen Umsturzversuchen vor. Sprich, Kavala werden nicht nur die Gezi-Proteste vorgehalten, sondern auch der gescheiterte Putschversuch. Das ist kein Kavaliersdelikt und sicherlich auch schwer nachweisbar, weshalb sich das Verfahren so sehr in die Länge zieht.

Mit ein Grund, weshalb die türkische Justiz das Verfahren nicht beschleunigen kann, ist, dass die Justiz durch die Entlassungen, Verhaftungen und Exilgänger ihre Personallücke nicht schließen kann. Das wirkt sich in allen Ebenen der Justiz aus. Ergo leidet die Rechtsstaatlichkeit vor allem an der derzeitigen Arbeitsdichte und wenig Personal.

Tatsache ist, dass die Türkei durch langjährige und schwer nachvollziehbare Rechtsverfahren wie gegen Osman Kavala oder zuvor gegen Deniz Yücel massiv in der Kritik steht. Die Kritik richtet sich aber stets gegen den amtierenden Staatspräsidenten Erdogan oder gegen die amtierende Regierungskoalition AKP/MHP. Es ist daher kaum mehr zu vermitteln, dass die türkische Justiz wie auch andere Staatsorgane ein Abbild der Türkei an sich sind, sprich, die Menschen, die in diesem Staatsapparat tagtäglich arbeiten, aus dem Volk, mitten aus dem Volk stammen. Das heißt, kaum jemand wird glauben, dass die türkische Justiz völlig losgelöst von Erdogan und der Regierung agiert.

Zusätzlich muss man die Wirkung der oppositionellen Kritik einrechnen, die ein desaströses Bild der türkischen Regierung abgibt, da sie mutmaßlich ihre Hand über die türkische Justiz halte. Das mag auf den ersten Blick ein wohlkalkulierter politischer Schachzug sein, ändert aber nichts daran, dass auch Gülen-Aktivisten weltweit in dieselbe Kerbe einschlagen, weshalb das suggerierte Bild einer nichtrechtstaatlichen Justiz perfekt wird.

Das darf trotzdem nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Türkei eine ganz besondere Situation vorherrscht, die unter rechtsstaatlichen, insbesondere menschenrechtlichen Gesichtspunkten ein echtes Dilemma darstellt. Das Gülen-Netzwerk, das mutmaßlich den Putschversuch von 2016 vollzogen hat, blickt auf eine sage und schreibe vier Jahrzehnte zurückreichende systematische Infiltrierung des türkischen Staatsapparates zurück. Über vier Jahrzehnte wurden von kleinauf gehirngewaschene Anhänger Gülens durch ein konspirativ arbeitendes Netzwerk in alle erdenklichen Schaltstellen sämtlicher Institutionen geschleust.

Insbesondere in das Bildungsministerium, der Polizei und Justiz waren das Netzwerk durchdrungen. Und der eigentliche Coup: die türkische Armee, was selbst für viele Türken eine Überraschung war. Zwar gab es bereits in den achtzigern erste alarmierende Berichte und investigative Recherchen, aber offensichtlich wurden diese nie ernst genommen oder konsequent ignoriert. Es wurden jedenfalls nach 2016 bislang zehntausende Staatsbedienstete in Ministerien, Polizei oder Armee dechiffriert. Trotz ausgeklügelter Rasterfahndung hat man noch immer keinen endgültigen Überblick darüber, wie viele Schläfer des Gülen-Netzwerks noch vorhanden sind.

Wie wird nun ein klassischer Rechtsstaat unter strikter Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien und unter Einhaltung internationaler Verträge mit einer solchen systematischen, überindividuellen, institutionalisierten Bedrohung fertig? Zumal erschwerend hinzukommt, dass diese Organisation mutmaßlich von mächtigen westlichen Geheimdiensten als eigentliche Strippenzieher gesteuert wird! Noch immer hallt die Aussage von Bruno Kahl, Präsident des Bundesnachrichtendienstes, nach, der noch im März 2017 gegenüber dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel geäußert hatte, er halte die Gülen-Bewegung für eine „zivile Vereinigung zur religiösen und säkularen Weiterbildung“ und er sehe „keine Anzeichen“, dass die Gülen-Bewegung hinter dem Putschversuch in der Türkei 2016 stecke.

Das wird in der westlichen Öffentlichkeit aus naheliegenden Gründen kaum thematisiert, aber es deutet wirklich vieles darauf hin, dass das Gülen-Netzwerk nach dem Putsch von 1980 von westlichen Geheimdiensten systematisch dazu genutzt wurde, um im türkischen Staatsapparat eine Art Sicherungssystem, eine Art Reißleine zu installieren. Unerklärlicherweise gedeckt und forciert wurde das offenbar seinerzeit von den damaligen Putschisten um den späteren Staatspräsidenten General Kenan Evren. Und jeder, der es fortan im türkischen Staatswesen zu etwas bringen wollte, musste sich scheinbar mit Gülens Netzwerk arrangieren – inklusive Erdogan, der dann allerdings umso radikaler mit Gülen gebrochen hat. So eine Konstellation wünscht man sich nicht einmal dem ärgsten Feind.

Das Gülen-Netzwerk ist im Innern wie im Äußern nach wie vor aktiv. Wenn man sie schon nicht davon überzeugen kann, ihre Gefolgschaft abzulegen, so kann man alternative Strategien entwickeln. Eines dieser Alternativen ist, was auch immer wieder angesprochen wird, eine Art Amnestie, die darauf abzielt, sie vom Untergrund zu lösen und in die Gesellschaft wiedereinzugliedern. Noch herrscht hierzu kein Konsens, weil man nicht abschätzen kann, ob sich das Gülen-Netzwerk wirklich auflöst und daraus individualisiert hervorkommt. Auf der anderen Seite braucht es eine Art Sicherung.

Die türkische Regierung will dabei nicht nur auf die verfassungsschützenden Organe wie den türkischen Nachrichtendienst setzen, sondern auch in den Staatsapparat selbst. Offenbar hat die Regierung bereits vorgesorgt und eine Stiftung etabliert, die Präsident Erdogan und der amtierenden Koalitionsregierung nahestehen soll. Sie fördern seit einigen Jahren gezielt Menschen, die dann in öffentliche Ämter geschleust werden. Kritiker sprechen zwar von „parallelen Staatsstrukturen“, aber die Kritik kommt mitunter aus derselben Ecke, wie die Kritik an der Verfolgung des Gülen-Netzwerks selbst.

Die „Türkische Jugendstiftung“ (TÜGVA) verfolgt nach eigenen Angaben das Ziel, „zu einer innovativen, fleißigen, moralisch guten, toleranten und erfolgreichen Jugend beizutragen“. Das solide Stiftungsvermögen werde dafür eingesetzt, mithilfe sozialer Aktivitäten etwas für die „Entwicklung der Jugend“ zu tun. Mittlerweile ist die TÜGVA die größte und relevanteste Jugendstiftung in der Türkei. Ersten Stimmen zufolge, soll die Stiftung den Einfluss ausländischer Stiftungen und deren verlängerte Arme im Inland unter Kontrolle halten oder gar zurückdrängen, quasi ein Gegengewicht sein. Ferner werde so auch verhindert, dass das Gülen-Netzwerk wiedererstarkt im Staatsapparat aufgeht. Offensichtlich behagt das manchen Kreisen im In- wie Ausland gar nicht!


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


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