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Kommentar: Ist der Wertewesten am Scheideweg?

Die Krise der europäischen Werteordnung und Stabilität wird nirgendwo so deutlich wie in der spanischen Exklave Ceuta in Nordafrika. Spanische Soldaten prügeln und stoßen Flüchtlinge zurück ins Meer, während ein Bild die Runde macht, in der ein Beamter der Küstenwache ein Flüchtlingsbaby vor dem Ertrinken rettet. Ein Kommentar von Nabi Yücel.

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Ein Gastbeitrag von Nabi Yücel

Die Krise der europäischen Werteordnung und Stabilität wird nirgendwo so deutlich wie in der spanischen Exklave Ceuta in Nordafrika. Spanische Soldaten prügeln und stoßen Flüchtlinge zurück ins Meer, während ein Bild die Runde macht, in der ein Beamter der Küstenwache ein Flüchtlingsbaby vor dem Ertrinken rettet.

Die Krise in Ceuta, die sich zwischen Marokko und Spanien abspielt, ist nur eines von vielen, die sich seit geraumer Zeit wie Perlen an der Schnur aufstauen. Europa, der Westen an sich, steht vor einem Scheideweg, weil das politische Handeln in den vergangenen Jahrzehnten protektionistisch, von nationalen Interessen und weniger durch Multilateralismus geprägt war.

Was sich jetzt in Ceuta vor den Augen der Weltöffentlichkeit abspielt, ist aber nur eines von vielen und hatte sich angekündigt: Griechenland setzt seit Jahren Flüchtlinge in Schlauchboote und treibt sie in die Ägäis zurück oder konzentriert sie auf Inseln und lässt sie verwahrlosen. Bürgerwehren in Ungarn suchen gezielt nach Flüchtlingen an der Grenze, um sie hinauszutreiben. An der serbisch-kroatischen Grenze werden Flüchtlinge von kroatischen Grenzbeamten zurück geprügelt. Italien lässt seit Jahren im weiten Mittelmeer die Schlauchboote versinken, während sie Rettungsschiffe von internationalen Hilfsorganisationen in Häfen festhält.

Vor Monaten gab die Türkei den Flüchtlingen das Signal, die europäische Außengrenze bei Griechenland zu passieren. Die Weltöffentlichkeit wurde Zeuge, wie Flüchtlinge zurückgedrängt, mit Gewalt zurückgetrieben wurden, obwohl mit der Türkei mit dem EU-Türkei-Flüchtlingsdeal auch ein Rücknahmeabkommen geschlossen wurde. Bis heute funktioniert der EU-Türkei-Flüchtlingsdeal jedoch nicht zu Gänze. Nicht weil die Türkei sie nicht umsetzt, sondern weil ausgerechnet die europäischen Wertenormen dem entgegenstehen und weil die versprochenen EU-Hilfsgelder nie pünktlich flossen.

Das Groteske daran ist, dass die Türkei in allen Belangen von Europa getadelt wird, die Europäer aber auf die Türkei in Zusammenhang mit den Flüchtlingen angewiesen sind, dass der Deal weiterhin gilt umgesetzt wird. Offenbar hat die EU ein doppeltes Gesicht: Innenpolitisch zeigt sie gegenüber der Türkei Zähne, während es außenpolitisch auf die Türkei angewiesen ist, dass diese die Flüchtlinge zurückhält. Eine Art Win-Win-Situation also?

Nun prügelt die EU diese Werte in Ceuta nieder, weil es inzwischen von existenzieller Bedeutung ist. Und weil man das der eigenen europäischen Bevölkerung schlecht oder gar nicht vermitteln kann, weshalb man in Ceuta so vorgeht wie man vorgeht, wird Marokko bald den Status eines Schurkenstaats von der Türkei übernehmen, die vor Monaten dasselbe durchgezogen hat, um die Europäer anteiligt an der Flüchtlingskrise zur Verantwortung zu ziehen.

Um was geht es da eigentlich, das ist doch die interessantere Frage! Es geht schlichtweg um die eigene Existenz, um die Sicherung des Wohlstands, um die Zukunft Europas. Mit Abermillionen Flüchtlingen, die vor den Außengrenzen lauern, kann die Zukunft nicht gestaltet, der Wohlstand nicht gesichert werden.

Mit Ländern, die immer unabhängiger werden, kann die Zukunft ebenfalls nicht gestaltet, nicht für Stabilität gesorgt, der Wohlstand nicht gesichert werden. Abhängigkeit von anderen bedeutet eben auch Erpressbarkeit und damit Verlust der Kontrolle über sie. Kontrollverlust bedeutet aber z.B. auch Rezession, Inflation oder Politikverdrossenheit in der EU. Das kann unangenehme gefährliche politische wie gesellschaftliche Folgen nach sich ziehen. Die Stimmung in Europa kann kippen, politische Ordnungen können aus den Fugen geraten. Ja sogar die anstehende Wahl kann dadurch beeinflusst werden, was man kurz vor dem EU-Türkei-Deal in Deutschland oder Österreich erleben konnte. Das gilt es zu verhindern, mit aller Macht. Das macht sich gerade in Ceuta bemerkbar.

Inzwischen ist die EU erpressbar geworden, gerade weil sie nicht willens war, die Flüchtlinge zum Teil aufzunehmen und die Länder, die bislang die Hauptlast getragen haben, zu entschädigen und ihnen Freiräume einzuräumen. Vor allem hat Europa, hat Deutschland in der geopolitischen Gemengelage keine Verantwortung übernommen. Das erklärt auch, weshalb Marokko jetzt auch stoßweise Flüchtlinge vom Stapel lässt, weshalb die Türkei die Flüchtlinge unkontrolliert ziehen ließ.

Auch Marokko oder die Türkei haben ihre ureigenen Interessen, die sie zu verteidigen wissen. Sie sind unmittelbar mit den Krisen konfrontiert, die der Westen ihnen vor dem Vorgarten mit eingebrockt hat. Vor allem die Türkei hat seit dem Aufstand gegen die Diktatur Assads mit den Folgen zu kämpfen, die der Westen mitzuverantworten hat. Es wurde einer der blutigsten und verheerendsten Konflikte der Gegenwart. Was nach Freiheit, Demokratie und Wohlstand strebender Aufstand begann, hat sich zu einer permanenten Krise aus Gewalt, Zerstörung und Vertreibung entwickelt. 6,6 Millionen Menschen sind vor Verfolgung, Terror und Bombardierungen außer Landes geflohen, innerhalb Syriens sind immer noch über sechs Millionen Menschen vertrieben. Allein die Türkei nahm 3,5 Millionen Syrer auf – die unzähligen Flüchtlinge aus Afghanistan, Jemen oder dem Irak und Iran nicht mit eingerechnet.

Und was tat Europa? Sie seilte sich spätestens nach 2014 sprichwörtlich ab und überließ das Minenfeld Syrien der Türkei und irgendwann auch Russland zurück. Seither kämpfen alle Parteien um ihre eigenen Interessen, aufgrund des zurückgelassenen Vakuums. Hatte Deutschland keine Interessen in Syrien? Selbstverständlich, die Staatsräson Deutschlands ließ es auch dann nicht zu, dass die anderen den Kuchen unter sich aufteilen.

Die Staatsräson erlaubte z.B. der AfD, sich mit Assad zu treffen, sich mit ihm abzulichten, Kontakte zu knüpfen und die Zukunftsperspektiven auszuloten. Die AfD übernahm damit zwar eine zwielichtige, amoralische Rolle ein, aber wenn es um das Staatswohl geht, übernimmt irgend eine Partei oder irgend ein namhaftes Parteimitglied (Schröder mit Putin, VW mit Peking) stets die Rolle des Vermittlers ein, auch wenn es dem eigenen Image schadet. Dieses Image ist doch spätestens dann rehabilitiert, wenn Deutschland in naher Zukunft davon profitieren kann, gerade weil sie nicht alle Brücken niedergerissen hat.

In Zusammenhang mit der Türkei kollidierten die Interessen mit Ankara. Spätestens mit den Gezi-Protesten im Jahre 2013 war deutlich wahrzunehmen, wie Berlin zu Ankara steht. Seither stehen sich Berlin und Ankara zwar nicht spinne Feind gegenüber, doch mit der derzeitigen Erdogan-Regierung kann Berlin offensichtlich ihre Interessen nicht durchsetzen. Deshalb sucht Berlin auch die Nähe zur türkischen Opposition, wie die AfD die Rolle übernahm, die Kontakte zu Damaskus warm zu halten – für die Zeit danach, wie auch immer sie auch ausfällt!

Berlin hat seit 2013 gegen die Regierung in Ankara alle möglichen Joker ausgespielt: Die Armenier-Frage, die EU-Beitrittsgespräche, die deutsch-türkischen religiösen Verbände, und jetzt gegenwärtig die „Grauen Wölfe“, die mit dem türkischen Koalitionspartner der AKP – der MHP – in Zusammenhang gebracht werden. Die Androhung Berlins, die „Graue Wölfe“ verbieten zu wollen, die Androhung des EU-Parlaments, die „Grauen Wölfe“ in die Terrorliste aufnehmen zu wollen sind starke Indizien dessen, was Berlin seit 2013 beabsichtigt. Spätestens mit der Einsetzung von Martin Erdmann als deutschen Botschafter in Ankara im August 2015 war klar, was Berlin um jeden Preis zu erreichen versucht: den Sturz, zumindest die Abwahl des türkischen Staatspräsidenten Erdogan samt AKP beschleunigen, zu unterstützen.

Erdmann wurde im Juli 2020 unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Erdogan ist aber bis heute im Amt und es sieht nicht so aus, als ob die AKP in der nächsten Zeit vor 2023 Neuwahlen anberaumt. Das ist für Berlin offensichtlich kein Grund, den Druck auf Ankara aufrechtzuerhalten oder zu verstärken, denn Ankara bietet ungewohnt Paroli. So tanzt Berlin zwischen Ankara und Athen, tritt auf der einen Seite als Vermittler auf, während es in Europa vorgibt, Zähne zu zeigen und damit Athen darin zu bestätigen, was sie seit ihrer Rückbesinnung auf den Hellenismus schon immer vorgehabt hat: Die Türkei in einem Korsett einzuengen und ihre eigenen Interessen durchzusetzen.

Entsprechend hilfsbereit unterstützt Berlin nun auch Eriwan, um der „Erdoganischen“ Türkei an den Karren zu fahren. Das Interesse an Armenien ist aber nur Mittel zum Zweck, oder was hätte Armenien außer dem hervorragenden Cognac anzubieten? Nichts! Armenien kostet sogar Geld, um sie gegen die Türkei zu motivieren, zu mobilisieren. Und Putin steht ebenfalls im Weg und vertritt die Interessen Russlands in Eriwan. Eine vertrackte Situation…

Für Deutschland, für Europa brechen harte Zeiten an. Und das nur, weil man jahrzehntelang darauf vertraut hat, dass die unter Kontrolle gehaltenen Länder den eigenen Wohlstand sichern, für Stabilität sorgen, Sicherheit bieten. Man hat nicht bedacht, dass die Zöglinge aus sich heraus und ihren eigenen Weg gehen, um selbst Wohlstand und Sicherheit zu erlangen.

So baut Europa nun merklich ihre eigenen Werte ab, vor aller Weltöffentlichkeit, die sie Jahrzehntelang mühsam aufgebaut hat. Die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten rüsten sich gegen die aufkeimende Politikverdrossenheit, in der sie sich selbst hineinmanövriert haben und in dem sie jetzt Gesetze verabschieden, die Minderheiten als Sündenböcke dessen stehen lassen.


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


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