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„Grauen Wölfe“
ATIB: „Deutschland ist nun Vaterland“

ATİB lehnt Beschuldigungen ab: „Wir haben stets das Zusammenleben sowie die verfassungsmäßigen Werte in Deutschland verteidigt“.

(Archivfoto: AA)
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Nach dem der Bundestag einer Prüfung eines möglichen Verbots von türkischen Vereinen zugestimmt hat, regt sich besonders bei einem Verband Widerstand: Der Vorsitzende der „Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa“, kurz ATİB, weist die Unterstellungen gegen seinen Verband entschieden zurück. ATİB habe sich schon vor Jahrzehnten von der „Graue Wölfe-Bewegung“ losgesagt. Der 1987 gegründete Verein stehe für ein friedliches Zusammenleben und achte die Werte des Grundgesetzes.

In einem gemeinsamen Antrag mit dem Titel „Nationalismus und Rassismus die Stirn bieten – Einfluss der „Graue Wölfe-Bewegung“ zurückdrängen“ haben die Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Grünen die Bundesregierung aufgefordert, ein Verbot der sogenannten „Grauen Wölfe“ zu prüfen.

Der Vorschlag wurde in einer halbstündigen Debatte gegen die Stimmen der AfD-Fraktion angenommen. Die Anträge der AfD sowie der Linkspartei, die beide ein Verbot forderten, wurden dagegen abgelehnt. Den Antrag der AfD lehnten alle übrigen Fraktionen ab. Dem Antrag der Linken stimmten nur die Grünen zu, die übrigen Fraktionen votierten dagegen.

Den Mitgliedern der „Grauen Wölfe“ wird vorgeworfen, einer nationalistischen und rassistischen Ideologie anzuhängen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) beziffert die Zahl der Anhänger in Deutschland auf etwa 11.000. Die Behörden sehen bei den Sympathisanten eine Gefährdung der inneren Sicherheit.

Ein mögliches Verbot soll „geprüft“ werden

In dem Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert:

„1. gemeinsam mit unseren europäischen und internationalen Partnern alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Einfluss der „Ülkücu“-Bewegung in Europa zurückdrängen;

2. die Aktivitäten der Ülkücü-Bewegung insbesondere in Deutschland fortlaufend genau zu beobachten und ihnen mit den Mitteln unseres Rechtsstaates entschlossen entgegenzuwirken;

3. gegen die Vereine der Ülkücü-Bewegung Organisationsverbote zu prüfen, um jeder sich gegen die Werte unseres Grundgesetzes, den Gedanken der Menschenwürde und der Völkerverständigung richtenden Aktivität rechtsstaatlich konsequent entgegenzutreten;

4. Programme über das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ und die Bundeszentrale für politische Bildung sowie Informationsmaterial des Bundesamtes für Verfassungsschutz im Rahmen der bestehenden Finanzierung aufzulegen bzw. zu verstetigen, um Öffentlichkeit, Vereine, Verbände und Institutionen über die Ziele und Methoden der Bewegung im Sinne der Demokratiebildung aufzuklären;

5. alle gesetzlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um der regen Agitation der Ülkücü-Bewegung im Internet rechtsstaatlich und konsequent entgegenzutreten;

6. Solidarität mit von den Grauen Wölfen verfolgten Personen und Gruppen in Deutschland, Europa und der Türkei zu zeigen und diese best-möglich zu unterstützen.“

Bereits wenige Tage zuvor wurden die sogenannten „Grauen Wölfe“ in Frankreich und den Niederlanden verboten. In Österreich dagegen wurde schon im Februar dieses Jahres ein Verbot der Symbole der Bewegung beschlossen.

ATIB-Vorsitzender weist Vorwürfe entschieden zurück: „Wir stellen uns gegen jede Art von Rassismus, Diskriminierung und Terror“

Die „Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa“ (ATİB), die in dem Antrag erwähnt wird und erstmals auch im diesjährigen Verfassungsschutzbericht auftaucht, bestreitet allerdings vehement, der Bewegung der „Grauen Wölfen“ anzugehören.

ATİB, die 1987 gegründet wurde, hatte sich von einem weiteren Verband, der „Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland“ (ADÜTDF), die ebenfalls in dem Antrag Erwähnung findet, bereits frühzeitig gelöst. Verbandsvorsitzender Durmuş Yıldırım wies in einem Gespräch mit der Zeitschrift „Perspektif“ darauf hin, dass ATİB in keinerlei Extremismus verwickelt sei.

Seit der Gründung der religiösen und kulturellen Vereinigung sei ATİB an keiner einzigen Gewalttat involviert gewesen und habe stets das Zusammenleben sowie die verfassungsmäßigen Werte in Deutschland verteidigt.

„Wir stellen uns gegen jede Art von Rassismus, Diskriminierung und Terror. Ganz gleich aus welcher Richtung diese kommen.“

Der Vorsitzende sagte außerdem, dass der Verband die gegen sie gerichteten Beschuldigungen im Antrag des Bundestages ablehne. „Wir werden gegen diese Verleumdungen, die wir auf keinen Fall akzeptieren und billigen, vorgehen.“ Darüber hinaus sagte Yıldırım, dass die ATİB nach wie vor bereit stehe, die Vorwürfe von einer unabhängigen, wissenschaftlichen Kommission untersuchen zu lassen: „Wir sind ein transparenter und offener Verband“, so Yıldırım. Gegen den Verbotsantrag werde der Dachverband die bereits angetretenen juristischen Schritte fortsetzen und sei zudem mit verschiedenen Wissenschaftlern in Kontakt.

Çelebi: „Unsere Werte und religiösen Überzeugungen lehren uns Loyalität gegenüber Deutschland“

Schon im September hatte sich der Ehrenvorsitzende der ATİB, Musa Serdar Çelebi, in einem offenen Brief an Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) gewandt. Darin unterstreicht der ehemalige Vorstandsvorsitzende die Heterogenität des Verbandes und weist auf die Integrationserfolge hin.

Çelebi:

„Auch Menschen verschiedener ethnischer Zugehörigkeit, u.a. Kurdische Mitglieder, und unterschiedlicher politischer Anschauungen partizipieren friedlich an der Vereinsagenda. Mit Verbänden verschiedener religiöser Ausrichtung, wie z.B. den Alevitisch/Bektaschi, führt sie freundschaftliche Beziehungen, die in der Organisation gemeinsamer Veranstaltungen und/oder Rituelle Ausdruck findet und damit bestärkt wird.“

Aufgrund der ausdrücklichen überparteiischen und gemäßigten Position des Verbandes, so Çelebi weiter, sei ATİB sowohl bei deutschen als auch nichtdeutschen Gesprächspartnern ein gern gesehener Kooperations- und Dialogverbündeter. „Deutschland ist nun Vaterland.“ Die Werte und religiösen Überzeugungen lehrten die Mitglieder der ATİB Loyalität gegenüber dem Staate, „dass wir freiwillig aufsuchten und in dem wir in Frieden leben“.

Der offene Brief im Wortlaut:

Offener Brief des ATIB Ehrenvorsitzenden Musa Serdar Çelebi an den Deutschen Innenminister Horst Seehofer

Kriftel, den 9. September 2020

Sehr geehrter Herr Horst Seehofer,

Aufgrund der Aufführungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz im Jahresbericht 2019 hinsichtlich der Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V. (ATIB), sehe ich mich als ehemaliger Vorstandsvorsitzender dazu verpflichtet, diesbezüglich Stellung zu nehmen.

​Die ATIB wurde 1987 von den Vereinen gegründet, die sich zuvor von der „Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealisten Vereine in Deutschland e.V.“ (ADUTDF) abgespaltet hatten. Die Gesamtheit der im Nachhinein eingeleiteten Initiativen und Arbeiten der ATIB orientieren sich ausnahmslos an ihrem Gründungszweck und ihren Grundprinzipien der friedlichen Koexistenz und proaktiven Bildungs- und Integrationsförderung der Türkischen Bevölkerung zur aktiven Teilhabe am und der Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens in der Bundesrepublik Deutschland, bei gleichzeitiger Bewahrung der religiösen und kulturellen Andersartigkeit. Von diesen Grundlagen hat sich ATIB zu keinem Zeitpunkt abgewandt.

Zum Zwecke der Selbstbestimmung bezüglich dem oben genannten besonderen Augenmerk ihrer gesellschaftspolitischen Tätigkeit, hat sich ATIB als Verband zum einen von jeder parteilichen Zugehörigkeit losgemacht und jede organische Verbindung danach vermieden. Zum anderen hat ATIB den Rechtsextremismus samt ihrer gesellschaftlichen Zentrifugaltendenz und die daraus entspringende Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierung bei jeder Gelegenheit wörtlich, schriftlich sowie tatsächlich vehement abgelehnt und ihn proaktiv aus Ihren Kreisen abzuwehren gekonnt. Dies gilt für jedes Gedankengut, das die territoriale und gesellschaftliche Integrität bedroht.

Nicht zuletzt deshalb wird ATIB nicht nur von der hiesigen Türkischen Bevölkerung respektiert. Auch Menschen verschiedener ethnischer Zugehörigkeit, u.a. Kurdische Mitglieder, und unterschiedlicher politischer Anschauungen partizipieren friedlich an den Vereinsagenda. Mit Verbänden verschiedener religiöser Ausrichtung, wie z.B. den Alevitisch/Bektaschi, führt sie freundschaftliche Beziehungen, die in der Organisation gemeinsamer Veranstaltungen und/oder Rituelle Ausdruck findet und damit bestärkt wird. Aufgrund der ausdrücklichen überparteiischen und gemäßigten Disposition des Verbandes in der Zivilgesellschaft, ersuchen Deutsche Gemeindeführungen bei kulturellen Veranstaltungen und/oder Projekten bevorzugt die Zusammenarbeit mit den entsprechenden ATIB-Ortsvereinen, wenn sie denn nicht bereits schon als Gemeindepartnerverein agieren.

Natürlich kann die persönliche Bindung zu Mutterland Türkei nicht abgestritten werden. Dort befinden sich die Wurzeln der Menschen, die damals unter dem Joch der instabilen sicherheitspolitischen Lage, Freiheit von jeglichem Missstand suchend Zuflucht in der jungen Demokratie Deutschland fanden. In einem vollkommen neuen affirmativen Kontext konnten folgende Generationen nach der Freiheit zur gleichberechtigten Selbstbestimmung und gleichgestellten Teilhabe an der Gesellschaft streben. ATIB hat sich das Letztere im Rahmen von Recht und Ordnung zur Aufgabe gemacht und ist in der Vermittlerposition dabei selbst in jeder Hinsicht evolviert bzw. progressiert.

Deutschland ist nun Vaterland. Nicht nur lehren uns die Werte sowie religiöse Überzeugung, die uns innewohnen, Loyalität gegenüber dem Staate, dass wir freiwillig aufsuchten und in dem wir in Frieden leben. Aktiv involviert sind insbesondere die späteren Generationen, die bei oder nach der Gründung der ATIB in Deutschland zur Welt kamen, nun als Berufsausgebildete bzw. Hochschulabsolventen, als Arbeitnehmer oder sogar als Arbeitgeber, vor allem aber als Bürger dieses Landes und ihrer Rechte und ihren Pflichten bewusst mit beiden Beinen im Leben stehen.

Etwas Wesentliches ist dazu parallel geschehen: aus der Kausalität der wechselseitigen Wandlungs- und Wirkungsprozesse zwischen der hiesigen Türkischen Bevölkerung und der ATIB, gingen unvermeidlicher Weise dynamische innere Vorantriebs- und Autokontrollmechanismen hervor, die es dem Verband heute nahezu unmöglich machen, einen riesen Schritt zurück in der Entwicklung in Richtung engstirnigem oder extremem Interessenausgleich zu tun. Dennoch muss unterstrichen werden, dass der ideelle bzw. ideologische Hintergrund zu keiner Zeit friedensbedrohend war, zumal dieser in den 33 Jahren wenigstens einmal in Gewalt hätte umschlagen müssen.

Umso frustrierender und bedauernswerter ist die degradierende und wahrheitsferne Kategorisierung der ATIB im Bericht unter „Sicherheitsgefährdende und Extremistische Bestrebungen von Ausländern“, die die jahrzehnte-lange Arbeit im Sinne allumfassender, inklusiver, freiheitlicher, gleichheitlicher, gerechter, vielfältiger demokratischer Strukturen negiert und eben die Dynamiken und Netzwerke nährt, die er einzudämmen versucht. Dazu gehören inländische oder ausländische populistische und extremistische Gruppen und Ihr Stereotypdenken. Somit birgt der Bericht die immense Gefahr der Selbstbewahrheitung, indem es vor allem die junge Generation der Deutschen Türken im allgemeinen in ihrem, in dem heutzutage extrem polarisierten Kontext ohnehin sehr schweren konstruktiven Einsatz entmutigt und sie zugunsten eben der extremen Randgruppierungen schwächt.

Auf welchen legitimen Beweisen und verallgemeinerbaren Beobachtungen der Verfassungsschutzbericht 2019 beruht, ist für die ATIB-Familie sowie für mich als Gründer und langjähriger Vorsitzender daher nicht nachvollziehbar. Für uns ist der Bericht fern von ‚Wissen und Aufklärung‘. Als ATIB sind wir aber zu jedem Zeitpunkt zur aktiven Zusammenarbeit gegen alle unfreiheitlichen Bestreben durch z.B. bewusstseinsbildende Maßnahmen jeglicher Art bereit. Hiermit müssen wir die Schwärzung unseres Verbandes nocheinmal vehement ablehnen und bitten daher dringend um Richtigstellung.

Hochachtungsvoll,

​Musa Serdar Çelebi