Start Politik Ausland Bergkarabach-Konflikt Kommentar: Armenien besetzt Gebiete in Aserbaidschan völkerrechtswidrig

Bergkarabach-Konflikt
Kommentar: Armenien besetzt Gebiete in Aserbaidschan völkerrechtswidrig

Seit dem Waffenstillstand 1994 hat die Republik Aserbaidschan im Vertrauen auf das internationale Recht versucht, die von der Republik Armenien völkerrechtswidrig besetzten Gebiete wieder zu erhalten. Die Lösungssuche durch die sog. Minsker OSZE-Gruppe mit den drei Vorsitzenden aus Russland, Frankreich und den USA waren unfruchtbar.

(Karte: Screenshot Wikimedia)
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Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Wilfried Fuhrmann, Potsdam

Zum Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan

Seit dem Waffenstillstand 1994 hat die Republik Aserbaidschan im Vertrauen auf das internationale Recht versucht, die von der Republik Armenien völkerrechtswidrig besetzten Gebiete wieder zu erhalten. Die Lösungssuche durch die sog. Minsker OSZE-Gruppe mit den drei Vorsitzenden aus Russland, Frankreich und den USA waren unfruchtbar.

Vielleicht war man nicht ernsthaft an einer gerechten Lösung oder einem Ausgleich interessiert. Jeder verfolgt eigene Interessen und wird beeinflusst von der starken Lobbyarbeit der sog. Diaspora von 7 Mio. Armeniern in Paris, Washington und auch Moskau. Armenien selbst entzog sich teilweise dem Einfluss Moskaus durch seine Politik der sog. Komplementarität, es betreibt das Spiel des Rosinenpickens mit allen Seiten gleichzeitig.

Politiker, auch deutsche, sprachen bald von einem anhaltenden sog. frozen conflict und glaubten, obwohl es regelmäßig Tote durch Scharfschützen gab und Armenien die besetzten aserbaidschanischen Gebiete ständig militärisch weiter aufrüstete, diesem, ihrem eigenen Trugbild derart, daß es keiner besonderen Aufmerksamkeit und schnellen Lösung bedurfte. Man spielte auch auf Zeit – und die Zeit lief gegen Aserbaidschan. Dabei hatte der Präsident Aserbaidschans stets auch die Option einer militärischen Befreiung betont.

Nach rund einer Generation sprachen seit März 2019 plötzlich sowohl der armenische Verteidigungsminister Dawid Tonojan als auch der armenische Präsident von einem „new war for new territories“, nachdem sie zuvor alle, auch die Befriedungsinitiative „territories for peace“ abgelehnt hatten. Der jüngst wiederholte armenische Beschuß an der Staatsgrenze zu Aserbaidschan in Richtung Tovuz in der Provinz Tovruz im Juli/August 2020 schien ein „geschickter“ Anfang zur Umsetzung zur Gewinnung neuer Territorien zu sein.

Aber Aserbaidschan achtete die internationale Grenze streng und verletzte sie nicht. Denn dann hätte Armenien unmittelbar Russland über die OVKS, dem von Russland dominierten Vertrag über kollektive Sicherheit, in den Konflikt gezogen. Russland würde zur Verteidigung der Republik Armenien bzw. der Armenier auf armenischem Staatsgebiet eingreifen. Aber dieses gilt nicht für Armenier auf dem Territorium Aserbaidschans, d.h. in Bergkarabach bzw. die faktische, international nicht anerkannte sog. „Republik Nagornyj Karabach“ (RNK), die kein Mitglied der OVKS ist sowie in 7 weiteren von Armenien besetzten aserbaidschanischen Gebieten1.

Im Laufe des Krieges werden gleichwohl von dort Orte im Inneren Aserbaidschans wie bspw. in Richtung Ganja u.a. mit Artillerie beschossen, denn die besetzten Gebiete geben Bergkarabach jetzt militärischen Flankenschutz.

Aserbaidschan scheint zunächst entlang der internationalen Grenzen die widerrechtlich in der Absicht der Annexion von Armenien besetzten sieben Gebiete auf seinem eigenen völkerrechtlichen Territorium zu befreien, um die territoriale Integrität wiederherzustellen. Danach wird es wahrscheinlich nach Aufhebung der RNK nach einer militärischen Rückeroberung eine „Autonome Region Bergkarabach“ und nach einer friedlichen Übergabe eine „Autonome Republik Bergkarabach“, vergleichbar der Autonomen Republik Nachitschiwan auf aserbaidschanischem Staatsgebiet einrichten.

Hier sind Verhandlungsprozesse zu erwarten. Es gibt derart keinen internationalen Krieg und damit keine Gefahr einer Ausdehnung des Krieges auf die ganze Kaukasusregion. Dieses kann nur in Folge eines Eingreifens Armeniens oder eines Krieges Armenien gegen Georgien wegen erhobener Gebietsansprüche eintreten.

Mit einer „Autonomen Region/Republik Bergkarabach“ werden die jetzigen Bewohner nicht vertrieben. Zurückkehren können die vertriebenen aserbaidschanischen Familien – nach dem Waffenstillstand 1994 gab es rd. 1 Mio. sog. Binnenvertriebene in Aserbaidschan, von denen viele an schweren physischen und psychischen Vertreibungsschäden litten.

Offen bleiben aber zunächst die Fragen, ob und wann Armenien wie in den Jahren 1986ff wieder zu Mitteln des Terrors greift sowie ob und wann Frankreich Armenien offen zu unterstützen beginnt. Letzteres würde die Nato „spalten“, da das Natomitglied Türkei auf der Seite Aserbaidschans steht.

Wahrscheinlich wird Armenien die Republik RNK mit „Freiwilligen“ und wohl auch mit regulären Einheiten unterstützen. Aber dieses beinhaltet eine große Gefahr für Armenien mit seinen faktisch gut 2 Mio. Einwohnern (gem. armen. Statistiken 3 Mio.) und seinem anhaltenden Prozess der Implosion. Seit Jahren verarmt, verelendet und entvölkert das ganze, die Hauptstadt umgebende Land. Nur Eriwan „wächst“ durch Zuzug in der Peripherie. Die „einfachen“ Menschen haben seit Jahren ein überaus hartes Leben infolge dieser Politik.

Viele Jüngere bleiben bei erstbester Gelegenheit im Ausland, viele junge Männer betrachten Bergkarabach und bisweilen auch das ansonsten von ihnen geliebte Armenien, insbesondere die dortigen Eliten als einen „Fake“, wofür sie nicht sterben wollen. Sie stärken die armenische Diaspora (dort wohnen die reichen und einflussreichen Armenier) und sie stützen die Republik Armenien durch Geld-Überweisungen sowie mit der Finanzierung von Projekten (Straßenbau, Immobilien usw.) insbesondere in Bergkarabach.

Die Versorgung Armeniens erfolgt großteils über die Landgrenze zur (schiitisch geprägten) Islamischen Republik Iran. Schon dieses verdeutlicht, dass es sich beim gegenwärtigen Krieg um keinen religiösen handelt, wie viele Nachrichtensendungen mit den Benennungen der Kriegsparteien mit „das christliche Armenien“ und „das mehrheitlich islamisch geprägte Aserbaidschan“ gewollt oder ungewollt suggerieren. Aserbaidschan ist geradezu stolz auf seine (vorbildliche) religiöse Toleranz, die jeder selbst vor Ort erleben und beobachten kann. Sie war und wird auch in der „Autonomen Region/Republik Bergkarabach“ herrschen.

Allerdings ist nicht zu vergessen, dass die christlichen Armenier schon früh und nicht erst seit dem Frieden von Turkmanchai 1828 aus dem Iran und auch später auf aserbaidschanischem Siedlungsgebiet angesiedelt wurden.2 Die muslimischen Aserbaidschaner wurden umgesiedelt3 oder von Armeniern gezielt verdrängt. Wer aber derart wieder die Religion oder persönliche schlechte Erfahrungen mit Moslems betont, verkennt die Entwicklung Aserbaidschans seit seiner ersten unabhängigen Republik und schädigt das Vertrauen sowie den Gleichheitsgrundsatz auch des internationalen Rechts. Und hier liegt eine Gefahr, die größer ist als der Krieg in der jetzigen Form. Die stets fortschreitende Politisierung des Rechts, weltweit und auch bei uns, zerstört es letztlich ebenso wie zuvor das Vertrauen in das Recht. Damit zerstört sie jede Stabilität in und zwischen den Völkern.

Ein persönlicher Nachsatz

Was besonders schmerzhaft ist, sind die jahrelangen unsinnigen Okkupationen von Land auf dem Territorium der Republik Aserbaidschan (die wohl aus den alten Träumen eines Großarmeniens stammen) und der Krieg bis 1994 sowie der jetzige Krieg mit vielen Toten, viel anhaltendem menschlichen Leid und Zerstörung. Ohne nationalistische Politisierung beim Zerfall der UdSSR haben in vielen Gegenden Aserbaidschaner und Armenier als friedliche Nachbarn gelebt und sie könnten es zumindest in einer „Autonomen Region/Republik Bergkarabach“ wohl auch nach gewisser Zeit wieder. Ich habe viele warmherzige Armenier*innen kennengelernt – aber auch sehr kalte, mitleidslose Mitglieder der Elite (vom Politiker bis hin zum Universitätsrektor).

Wilfried Fuhrmann
Stand 10.10.2020

1. Zu diesen 7 Gebieten gehören Aghdam*, Fizuli*, Gubadli, Jabrayil, Kalbajer, Lachin mit dem Lachiner Korridor nach Bergkarabach und Zangrilan. * bedeutet „teilweise“. Diese Okkupationen dienten dem militärischen Flankenschutz von Bergkarabach und der Landgewinnung. Dabei wohnten gem. der letzten sowjetischen Statistikangabe im Jahre 1989 in Lachin bspw. 51594 Menschen, davon 90 % Aserbaidschaner, daneben Russen und andere sowie 3 Armenier. In Jabrayil waren von 48399 rd. 97 % Aserbaidschaner und in Gubadli von 28111 sogar 99 % .
2.
Schon Zar Peter I. ordnete es per Order vom 10.11.1724 u.a. mit dem Auftrag an: „Sie sollen dabei versuchen, das dort lebende Volk zu vertreiben.“ Diese Politik wurde fortgesetzt u.a. auch durch Zar Nikolaus I sowie weitergetragen u.a. durch Katharina d. Große usf..
3. Die Aserbaidschaner wurden in die tieferen (feuchten, ungesunden) Ebenen umgesiedelt, so dass in Distrikten wie bspw. Fizuli, Gubadli, Jabrayil und Zangrilan nahezu nur Aserbaidschaner lebten und kaum ein Armenier (siehe Fußnote i).


Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


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