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Kommentar: Soll Vergewaltigung in der Türkei straffrei werden?

In der Türkei hat man die zweite Runde eingeläutet, um die zweite Strafrechtsreform auf den Weg zu bringen, die erneut mit einem hysterischen Aufschrei der "Opposition" einhergeht. Tatsächlich nimmt das ganze derzeit komische Formen an, vor allem dann, wenn die deutsche Presselandschaft sich innertürkischen "Problemen" widmet.

(Symbolfoto: pixa)
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Ein Gastkommentar von Nabi Yücel

In der Türkei hat man die zweite Runde eingeläutet, um die zweite Strafrechtsreform auf den Weg zu bringen, die erneut mit einem hysterischen Aufschrei der „Opposition“ einhergeht. Wobei, unter Opposition muss man weniger die Partei CHP oder eine andere namhafte Partei verstehen, vielmehr das linke, sozialistische wie kommunistische Umfeld in der Türkei, und natürlich, was darf nicht fehlen, seit einigen Tagen auch die deutsche Presselandschaft die auf Politposse aus ist.

Tatsächlich nimmt das ganze derzeit komische Formen an, vor allem dann, wenn die deutsche Presselandschaft sich innertürkischen „Problemen“ widmet, die seit mehr als einem Monat publik ist. Mit Titelschlagzeilen die jeden Stammtischgast in Schnappatmung versetzen, „Demokraten“ zur Weißglut bringen, Politiker kopfschüttelnd anmahnen, brillieren derzeit Stern, Bild und Co..

Dabei hatte man sich am Thema bereits vor mehr als einem Jahr abgearbeitet, wobei hier die türkische Oppositionspartei CHP im Endspurt zur Kommunalwahl in der Türkei (31. März 2019) vom Leder zog. Damit konnte die CHP Istanbul zwar für sich verbuchen, aber so schrill wie man sich dem Thema gewidmet hatte, so still wurde es um die steile These nach der Kommunalwahl.

Vor einem Monat wurde in der Türkei erneut die Frage aufgeworfen, wie es um das zweite Paket der Gesetzesreform bestellt sei. Offenbar reichte diesmal die Andeutung für einen zweiten Anlauf der Reform – Angleichung an die EU-Standards – der linken, sozialistische wie kommunistische Parteilandschaft, die daraufhin in Massen-Online-Portalen seither darauf hinweisen, was man damit angeblich beabsichtige. Die Steilvorlage heißt:

„Gesetzesentwurf, die Vergewaltigern Straffreiheit gewährt.“

Inzwischen haben die innertürkischen Meldungen auch die deutsche Presselandschaft auf den Plan gerufen, hierbei mächtig auf die Buschtrommel zu schlagen. „Abscheulicher Gesetzesentwurf – Vergewaltiger straffrei, wenn…“ heißt es bei „Der Westen“; „STERN“ titelt „Gesetzesentwurf in der Türkei: Straffreiheit für Vergewaltiger“; und die „BILD“ wittert gar einen „Skandal“ und titelt „Vergewaltiger straffrei, wenn sie ihr Opfer heiraten“.

Die Politposse über türkische Vergewaltiger

Es ist fast schon amüsant mitanzusehen, wie sich die deutsche Presselandschaft ins Zeug legt, um dabei vor allem über die amtierende Regierungspartei AKP sowie seinen Vorsitzenden herzuziehen. Es reicht ja nicht mehr, wenn man einige Größen der Gülen-Bewegung zu Wort kommen lässt, damit die wie jüngst in einer Reihe von Meldungen über den türkischen Präsidenten Erdoğan abledern, nein, man deichselt das auch so hin, dass die Meldungen über Erdoğan, die Antwort der Bundesregierung zu einer Kleinen Anfrage der Linken zu Fethullah Gülen und seiner Sekte kaum das Tageslicht erblickt.

Es ist ja kaum noch zu verhehlen, welchen, gelinde gesagt, schweren Stand die Gülen-Sekte innerhalb der türkischen Gesellschaft hat. Wenn es nach den Bürgern in der Türkei geht, kann Deutschland die Sekte getrost für sich behalten und damit glücklich werden; bis auf die Blackbox, genannt Adil Öksüz, den hätte man gern wieder zurück. Es geht aber an einem türkischen Staatsbürger nicht spurlos vorüber, wenn so Exil-Größen wie Hakan Sükür, Fethullah Gülen oder Enes Kanter in Titelschlagzeilen großzügig zu Wort kommen, ihre Opferrolle auskosten und dabei im Sinne der deutschen Politik bzw. Regierung über Erdoğan herzuziehen. Da hört dann der Spaß auf.

Der Spaß hört auch dann auf, wenn in Zusammenhang mit der zweiten türkischen Gesetzesreform klassische Propaganda betrieben wird, wie sie im Ersten Weltkrieg von Deutschland betrieben wurde. Es reicht eigentlich der gesunde Menschenverstand, damit man nicht erst auf die Idee kommt, die haltlosen Vorwürfe wie „Abscheulicher Gesetzesentwurf – Vergewaltiger straffrei, wenn…“ ernst zu nehmen, zumindest erst zu hinterfragen.

Balla balla

Gerade in der türkischen Gesellschaft ist eine Vergewaltigung oder ein sexueller Übergriff, ob an einer erwachsenen Frau, Jugendlichen oder Kind, eine schwere moralische Tat, das sogar Mord bei weiten übertrifft. Ein Vergewaltiger oder ein Sexualtäter hat es daher im türkischen Knast nicht leicht; sie werden schlichtweg separat eingekerkert und können sich nach der Verbüßung der Haftstrafe kaum in Freiheit wähnen.

Einer der entscheidendsten Punkte, weshalb diese Steilvorlage eine Halbwertszeit gegen null hat ist, dass das Thema von der CHP derzeit erst gar nicht aufgegriffen wird. Stattdessen hat sie Ende des vergangenen Jahres sogar mehrere Leitanträge gestellt, in der der Schutz von Frauen, Jugendlichen und Kindern im Strafrecht erneut verbessert, sich damit der Übereinkunft des Europarates anschließt.

Frauenwahlrecht in der Türkei: 1930 – Deutschland?

Zudem, und das ist der nächste entscheidende Punkt, müsste man konsequenterweise davon ausgehen, dass die türkische Gesetzgebung auf archaischen Grundfesten Fuß fasst, was aber schlichtweg absurd wäre. Denn, mit der Republikgründung hat die Türkei eine moderne Verfassung, dessen Artikel 41 befasst sich grundsätzlich mit diesem Thema.

Zudem wurde zeitnah auch das europäische (italienische) Strafrecht übernommen und es werden seit den EU-Beitrittsverhandlungen Gesetzesreformen verabschiedet, die beinahe abgeschlossen sind. Außerdem hat sich die türkische Rechtsprechung dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebeugt und schlussendlich als Mitglied der UNO auch die Menschenrechtscharta ratifiziert. Von den Alleingängen wie Frauenwahlrecht, als in Deutschland noch der Ehemann befragt werden musste, nicht zu sprechen…

Jeder normale Menschenverstand würde spätestens jetzt die Vorwürfe als lächerliche Einbildung abtun. Allerdings gilt das nicht für notorische Dauernörgler, die sich zudem nur selbst als demokratisch-legitime Wächter der Türkei betrachten. Soviel Selbstbetrug findet man nicht oft, aber vor allem im Umfeld der Opposition zu Erdoğan und seiner AKP; und dazu gehört auch das arme Deutschland, dass sich damit befasst.

Deutschland sollte nicht viel auf die Sekte setzen

Um wieder auf die Gülen-Sekte und Deutschland zu kommen: die Bundesregierung hat eigentlich schon bewiesen, wie sie zur derzeitigen türkischen Regierung steht. Indem sie die ganz großen Sektenmitglieder aus der Türkei aufgenommen bzw. ihnen Schutz geboten hat, sich ständig als Sprachrohr der Gülen-Sekte zur Verfügung stellt, handelt sie parteiisch. Sie handelt nicht im Sinne der Türkei und das Land ist nicht Erdoğan oder die AKP. Wenn Deutschland meint, durch Betreiben eines Soft-Putsches Erdoğan vom Thron zu stürzen, wäre die Türkei wieder kontrollierbar, dann irrt sie sich gewaltig. Weder mit der Oppositionspartei CHP, noch mit der MHP, ist ein Stopp der juristischen Aufarbeitung nach der Erdogan-Ära zu erwarten, geschweige denn, werden die Gülen-Mitglieder mit offenen Armen wieder aufgenommen.

Wenn das nicht der Hauptgrund ist, weshalb man die Gülen-Sekte schützt, dann gibt es nur noch eine These, die in Betracht kommt: Deutschland nutzt das Wissen der Gülen-Sekte, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Von einer Partnerschaft kann also keine Rede sein.

Während die juristische Aufarbeitung des gescheiterten Putschversuches in der Türkei gegen die Gülen-Sekte anhält, wird innerhalb der Gesellschaft das sich über mehr als drei Dekaden angewachsene Vergehen der Sekte innerhalb der türkischen Ordnung aufgearbeitet. Hunderttausende Menschen wurden durch Ungleichbehandlung, Mobbing, strafrechtliche Verfolgung, von ihren Berufen abgehalten, ihrem Lebensweg beschnitten, von ihren elementarsten Rechten beraubt.

Die Gülen-Sektenmitglieder sind daher die letzten, die sich als Opfer ausgeben dürfen und können. Zuallererst müssen sie sich vor der Gesellschaft rechtfertigen und erklären, wie sie zu dieser immensen Macht und Position gelangten. Wenn sie das selbst aufarbeiten, zu einer befriedigenden Erkenntnis gelangen, die die türkische Gesellschaft wahrnimmt, dann erst ist die Geschichte vorbei und kann ein neues Kapitel eröffnet werden. Aber so wie man diese Pappenheimer kennt, wird es keine selbstkritische Aufarbeitung geben und damit auch keine Rückkehr in die Türkei.

Um was geht es denn nun bei der zweiten Reform bzw. Gesetzes-Antrag tatsächlich?

Es geht um ein Wahlversprechen des MHP-Parteivorsitzenden Devlet Bahceli, der eine Amnestie bzw. Strafmilderung in Aussicht gestellt hatte. Am 24. September 2018 stellte die MHP-Fraktion diesen Gesetzes-Antrag (Esas No. 2/970) vor, in der für bestimmte Straftäter Amnestie bzw. Strafmilderung gefordert wurde, um nach eigenen Angaben u.a. die Haftanstalten zu entlasten. Dieser Antrag wurde später zurückgezogen, ehe sie in der Parlamentskommission erörtert werden konnte. Laut türkischen Medienberichten hatte man den Antrag aufgrund der anschließenden Unterredung mit zahlreichen NGO´s auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt. Kommentatoren resümierten, die MHP habe aufgrund der aufgeheizten Stimmung und der bevorstehenden Kommunalwahl den Antrag zurückgezogen.

In dem Gesetzes-Antrag, der Online im türkischen Nationalparlament nachzulesen ist, wurde explizit darauf hingewiesen, welche Straftaten und Strafmaße nicht in den Genuss der Amnestie bzw. Strafmilderung kommen: unter anderem Terrorismus, Mord und Totschlag, und man beachte, Vergewaltigung sowie sexuelle Belästigung; auch von Frauen und Kindern unter 15 Jahren.

Überdies sollten Strafmaße in den Genuss der Amnestie bzw. Strafmilderung kommen, die nicht mehr als 2 Jahre Haft betragen. Die MHP-Fraktion hatte ihre Hausaufgaben gut gemacht und verwies im Antrag vor allem in Bezug zu Familie, Frauen und Kinder auch auf die UN-Menschenrechtscharta sowie auf die türkische Verfassung Artikel 41 (Die Familie ist die Grundlage der türkischen Gesellschaft.)

Am 14. Dezember 2019 stellte die Oppositionspartei CHP einen Antrag (Esas No. 2/2448), um das Strafrecht und die Strafverfolgung nach Paragrafen 5271/Artikel 253 zu überarbeiten und somit dem Artikel 48 (Verbot verpflichtender alternativer Streitbeilegungsverfahren oder Strafurteile) anzugleichen, die im Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, am 11. Mai 2011 in Istanbul von allen Mitgliedern des Europarats ratifiziert wurde. Dieser Antrag wurde der Kommission vorgelegt und ist derzeit laut Online-Datenbank des türkischen Nationalparlaments in Bearbeitung.

Am 27. Dezember 2019 stellte die CHP einen weiteren Antrag (2/2478), mit der die Strafmilderung oder Strafaussetzung auch zur Bewährung (Paragraf 5237/Artikel 231) in Zusammenhang mit Paragraf 5237/Artikel 105 (sexuelle Belästigung) ausgeklammert werden sollte. Damit wolle man, so die CHP im Antrag, verhindern, dass die für sexuelle Belästigung angesetzte Strafe von ab 3 Monaten bis zu 24 Monaten u.a. wegen des geringen Strafmaß automatisch mit dem Paragraf 5237/Artikel 231 in Berührung kommt.

Im weiteren Verlauf stellte die CHP dem Nationalparlament weitere Anträge zu Gesetzesreformen in Zusammenhang mit Gewalt gegen Frauen und Kinder sowie mit Haftbedingungen für Mutter und Kind, die derzeit noch in Bearbeitung sind, um das Strafgesetz den EU-Chartas anzugleichen.


Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


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