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Atomwaffen und Flüchtlinge: Die Türkei mausert sich

Der Zerfall des Osmanischen Reiches hat gezeigt, dass keine Ordnung von Ewigkeit ist. Mit ein wichtiger Grund war, dass die militärische Überlegenheit schwand, die Abschreckung nicht mehr wirkte. In der Gegenwart muss sich die Türkei den neuen Herausforderungen stellen, die ihr die Zukunft aufgebürdet hat. Ein Kommentar.

(Foto: tccb)
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Ein Gastbeitrag von Nabi Yücel

Der Zerfall des Osmanischen Reiches hat gezeigt, dass keine Ordnung von Ewigkeit ist. Mit ein wichtiger Grund war, dass die militärische Überlegenheit schwand, die Abschreckung nicht mehr wirkte.

In der Gegenwart muss sich die Türkei den neuen Herausforderungen stellen, die ihr die Zukunft aufgebürdet hat. Im Nahen Osten brodelt es seit fast 100 Jahren. Vor der eigenen Haustür herrscht seit mehr als einem Jahrzehnt Bürgerkrieg, im Osten soll der Nachbar offenbar auf Atomwaffen hinarbeiten. Im Innern versuchen linksextremistisch-kommunistische Splittergruppen wie auch die nationalistisch-kurdische Terrororganisation PKK die Republik zu stürzen.

Von außen wirken die Europäer wie auch Amerikaner auf die Türkei, um sie für ihre eigenen Interessen gefügig zu machen. Letztere ist ein Interesse, über dass die Türkei lange Zeit hinweggesehen hat, genauer gesagt, notgedrungen bedienen musste. Nationen haben es so an sich, dass sie ihre eigene Ordnung und die Stabilität meist auf Kosten anderer Nationen sichern.

Lange Zeit hielt die Türkei als Vorposten der USA bzw. der NATO den Kopf hin; als Bollwerk gegen den Klassenfeind UDSSR bzw. Warschauer Pakt. Manche der Putsche in der Türkei sind darauf zurückzuführen, manche der heute noch in der Türkei agierenden Terrororganisationen sind ein Relikt dieser Zeit. Ende der 90er Jahre, entwickelte die Türkei aber ein Eigenleben; auch auf den Zerfall der UDSSR sowie des Warschauer Pakts zurückzuführen.

Die Wirtschaft war gerade dabei, Fahrt aufzunehmen, da sprang Recep Tayyip Erdogan auf den fahrenden Zug auf. Seit mehr als 15 Jahren lenkt er seitdem die Geschicke des Landes, zum Positiven hin. Die Menschen dankten es ihm bislang mit Wahlerfolgen. Manches ist zu kritisieren, aber Vieles scheint seine Partei richtig zu machen. Mit dem wachsenden Selbstwertgefühl wächst auch der Drang danach sich abzunabeln, die nationalen Interessen mit den anderen gleichzustellen oder gar über die der anderen zu stellen, wenn man feststellt, dass die gegenseitigen Beziehungen zu Lasten der Türkei verlaufen.

Was bislang wie ein Dogma von der USA und Europa gehegt und gepflegt wird; dass man die Werte der heutigen zivilisierten Weltgemeinschaft zementiert habe, auf die man als Menschheit Stolz sein müsse, dass die eigene Ordnung das non plus ultra darstellt, das bekommt immer mehr Risse. Im Mittelmeer und in der Ägäis ertrinken Schutzsuchende zu Tausenden, während die Europäer über Quoten schachern. Die USA haben nicht nur den unüberwindbaren Atlantik, sondern auch einen tausende Kilometer langen Zaun zum Süden, um Flüchtlinge aufzuhalten.

Währenddessen wird darüber gefeilscht, welches „Regime“ auf der Welt gestürzt werden soll, um auf Kosten dieses Landes wieder den eigenen Wohlstand und die Sicherheit zu gewährleisten. Aber, diese moralischen Verwerfungen sind kaum noch zu verbergen. Immer öfter stehen diese „Demokratien“ in der Kritik, nicht nur im Ausland, sondern auch im Inland.

Erst jüngst ließ die Evangelische Kirche verlautbaren, dass sie sich mit einem Schiff an der Seenotrettung der Flüchtlinge beteiligen will. Kurz zuvor hatten muslimische Verbände in Deutschland und Österreich für die „Sea–Watch 3“ eine 5-stellige Summe gespendet. Dieselbe Aufmerksamkeit erhält die Türkei von europäischen Staaten seit 2016 nicht mehr, die bislang mehr als 3,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat; ein Resultat, dass der Westen mitzuverantworten hat. Obwohl man vor drei Jahren hoch und heilig versprochen hatte, die Türkei in der Flüchtlingskrise tatkräftig zu unterstützen, wird die versprochene finanzielle Unterstützung, die überdies nur den Flüchtlingen zuteil wird, als politisches Druckmittel oftmals monatelang mit europäischen Bürokratismus zurückgehalten.

Dieselben Bürokraten sind zugleich auch die Nutznießer, die im europäischen Kerngebiet von Flüchtlingsströmen ausgenommen sind. Leidtragende sind wiederum die Italiener oder Griechen, die um ihren sozialen und gesellschaftlichen Frieden besorgt sind und mit aufkeimendem Nationalismus und Populismus zu kämpfen haben. Nichtsdestotrotz haben diese Gesellschaften es bislang sehr wohl geschafft, den Wohlstand mit den aufgenommenen Flüchtlingen zu teilen. Nicht anders ergeht es der Türkei, die in direkter Nachbarschaft mit dem Bürgerkriegsland Syrien, derzeit mit einer weiteren großen Flüchtlingswelle rechnet.

In Europa ist man offenbar nicht mehr bereit, weitere Flüchtlingskontingente aufzunehmen; stattdessen übt man immer öfter und beständiger heftige Kritik am türkischen „Regime“, echauffiert sich über den „Diktator“ oder berichtet über die „desolate“ Menschenrechtslage im Land, während Menschen in Syrien unter Bombenhagel sterben oder die Stellvertreter des Westens neue geopolitische Ziele verfolgen.

Diese geopolitischen Ziele konterkarieren aber die nationalen Interessen der Türkei; unabhängig davon, wer nun das „Regime“ anführt. Würde die Republikanische Volkspartei CHP die Regierung aufstellen, stände sie genauso unter heftiger Kritik wie die neue IYI-Partei unter der Führung der Parteivorsitzenden Meral Aksener; denn beide Parteien haben die gleichen Sorgen und Befürchtungen wie die AKP, der Partei von Erdogan. War es vor mehr als einem Jahrzehnt noch das türkische Militär, die wie ein Fels in der Brandung die Interessen des Westens mit unterstützte, so findet man heute nur noch eine marginale Kraft, die gegenüber den USA oder der NATO noch offen gegenüber stehen. Schlimmer noch, es gibt in sozialen Netzwerken immer mehr hochrangige ehemalige Militärs, die offen davon abraten, nur die Interessen des Westens zu berücksichtigen.

Es ist kein Geheimnis, dass die aktiven Militärs genauso denken, jedoch in der Dienstzeit pflichtgemäß ihre persönliche Meinung zurückhalten. Dafür sprechen ihre pensionierten Kollegen, darunter vor allem ehemalige Tatverdächtige in Zusammenhang mit den Mammutprozessen gegen die „Ergenekon“ oder „Vorschlaghammer“, schonungslos in sozialen Netzwerken wie auch in türkischen Talkshows das aus, was viele denken, aber nicht sagen dürfen oder wollen.

„Die USA oder die NATO haben eigene Interessen, die der unseren widersprechen.“

Zieht man nun ein Schlusslicht drunter, stellt sich die Frage überhaupt nicht mehr, ob die Türkei eine Atommacht sein darf oder Vorkehrungen trifft, um ihre eigene innere wie äußere Sicherheit zu gewährleisten. Sie ist zwangsläufig dazu angehalten, ihre Interessen auch durch Abschreckung zu wahren, ob in Syrien, vor der zyprischen Küste oder im Nahen Osten. In der Region gibt es bereits eine Atommacht, die auf die uneingeschränkte Unterstützung der USA zählen kann: Israel.

Israel besitzt die Atomwaffen nicht, um damit bei erstbester Gelegenheit um sich zu schießen. Die Türkei hat ebenfalls kein Interesse, sein Umfeld in Schutt und Asche zu legen. Die Türkei kann seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 nicht mehr auf die USA oder NATO setzen. Zu viele offene Fragen zum Putschversuch, zu viele innerhalb des Militärs, die eine distanzierte Haltung gegenüber dem Westen eingenommen haben, zu viele Menschen, die angesichts der desolaten Flüchtlingspolitik des Westens mittlerweile verstanden haben, worauf deren Wohlstand und Sicherheit Fuß fasst. Sie haben verstanden, dass der Wohlstand und die Sicherheit erkämpft werden müssen, nötigenfalls durch Abschreckung.


Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


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