Von Nabi Yücel Für 99 Jahre und 6 Monate muss Erhan Tuncel in Haft, ein ehemaliger informeller Mitarbeiter der Polizei in Trabzon. Der damals 16-jährige Ogün Samast, der Mörder von Hrant Dink, der nach seiner Festnahme in Samsun mit zwei Polizisten und der hochgehaltenen türkischen Fahne in der Hand auf den Titelschlagzeilen der Gülen-nahen Medienagenturen erschien, wurde wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen bzw. terroristischen Organisation zu weiteren 2 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt. Yasin Hayal, der die Mordwaffe beschafft hatte, bekam weitere 7 Jahre und 6 Monate auf seine bereits lebenslange Haftstrafe. Anfang Juli 2007 begann der Prozess gegen die drei Hauptangeklagten, aber zunächst wurde nur Samast zu 22 Jahren Haft verurteilt. Hayal wurde erst 2012 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, während der informelle Mitarbeiter der Polizei, Erhan Tuncel, freigesprochen wurde. Das damalige Urteil sollte den Eindruck erwecken, ein kleiner Personenkreis habe die Tat geplant und ausgeführt. In seiner kurzen Rede nach dem Freispruch sagte Tuncel, er sei ein Opfer des Staates, obwohl er ihnen gedient habe. Tuncel sagte das nicht, um sich zu rechtfertigen, sondern um die eigene Verantwortung auf den „Staat“ abzuwälzen. Samast stand nicht zwischen zwei Polizeibeamten und parierte mit der türkischen Fahne, um zu verdeutlichen, dass er von der türkischen Polizei folgerichtig verhaftet wurde, sondern weil er dachte oder weil andere Denken sollten, er habe es für die „Türkei“ getan. Gegen die zwei Polizeibeamten wurde kurze Zeit später ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Später wurde daraus ein Verfahren, das mit einem Hauptverfahren gegen den ehemaligen Chef der Nachrichtendienst-Abteilung der Polizei von Trabzon, Ramazan Akyürek, sowie weiteren 25 inhaftierten mutmaßlichen Mitgliedern der FETÖ/PDY zusammengeführt wurde. Beide gaben an, auf Anweisung hin dem Dink-Mörder die Fahne in die Hand gegeben und anschließend posiert zu haben. Beide wiegelten bislang jede Mitgliedschaft in einer Terrororganisation wie der FETÖ (Fethullahistische Organisation) bzw. der PDY (Tiefenstaat) ab. Erhan Tuncel wurde lange vor dem Mord an Hrant Dink von Ramazan Akyürek als informeller Mitarbeiter für die nachrichtendienstliche Beschaffung von Informationen für das Polizeipräsidium in Trabzon angeworben. Damit schließt sich der Kreis, der aufzeigt, wie die FETÖ/PDY arbeitete, sagt Nedim Şener. Der türkische Journalist Nedim Şener betonte am Mittwoch während einer TV-Nachrichten-Talkshow erneut, wie brisant und wichtig das Urteil der 14. Strafkammer in Istanbul sei. Die Strafkammer ist auch für ein weiteres wichtigeres Verfahren gegen Erhan Tuncel, Ramazan Akyürek sowie weitere zwei Dutzend Mitangeklagte verantwortlich, in der vermutet wird, dass Tuncel mit dem heutigen Urteil von mehr als 99 Jahren seinen Vorgesetzten Akyürek schwer belasten wird. Bislang schwieg Tuncel jedenfalls zu all den Vorwürfen. Laut Nedim Şener werde aber Tuncel wohl in nächster Zeit auspacken und reden. Er habe ja schließlich nichts mehr zu verlieren, so Şener weiter. Tuncel sei zwar 2012 mit Hilfe der FETÖ-Justiz freigesprochen worden, um so alle Verbindungen zwischen ihm und Akyürek sowie der FETÖ/PDY zu kappen und unkenntlich zu machen, aber diesmal habe der Staatsanwalt eine wasserdichte Beweisführung vorgelegt, mit dem das erwartete Urteil am Mittwoch erreicht worden sei. Alle sollten glauben, die „Ergenekon“, der „Tiefenstaat“, habe Dink auf dem Gewissen Es begann vermutlich nicht erst mit Hrant Dink, aber seine Ermordung sollte Anstoß sein, die sogenannte „Ergenekon“ juristisch zu verfolgen. Vor Dink wurde im Februar 2006 der italienische Priester Andrea Santoro in einer Kirche in Trabzon brutal ermordet, von einem 16-jährigen. Nach Dink wurden im April 2007 der türkische Pastor Necati Aydın, der türkische Christ Uğur Yüksel und der Deutsche Tilmann Geske in Malatya ermordet – bekannt als Morde im Zirve-Verlag. Auch hier waren die Mörder zwischen 19 und 20 Jahre alt. Alle Morde hatten ein internationales Ausmaß. Unter den Ermordeten gab es einen Deutschen, einen Italiener, Christen und sogar einen Armenischstämmigen. Letzterer war aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Minderheit, die mit dem Jahr 1915 assoziiert wurde, ein international geachteter Journalist, der für Demokratie und Rechte in der Türkei, für die Versöhnung zwischen den Völkern mit der Geschichte eintrat. Seine Ermordung hatte laut Nedim Şener den Sinn und Zweck, die sogenannte „Ergenekon“ als Sündenbock zu manifestieren. Die Morde davor und danach wurden also verübt, um der juristischen Verfolgung der sogenannte „Ergenekon“ den Weg zu ebnen. Die Rechtsradikalisierung der „Ergenekon“, die durch die Ideologie der jungen Mörder transportiert wurde, sollte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Journalisten, Akademiker und Militärangehörige jedweder Coleur übergestülpt werden, um sie so aus dem Verkehr zu ziehen. Sie standen offenbar der politischen wie gesellschaftlichen Agenda der FETÖ/PDY im Weg. Mitte 2007, nach den Morden im Zirve-Verlag war man innerhalb der FETÖ/PDY wohl der Annahme, dass der Zeitpunkt gekommen war, zuzuschlagen und aufzuräumen. Aufgrund der internationalen Empörungswellen, die auf die türkische Justiz wie Regierung, aber auch auf Teile der Gesellschaft hereinbrachen, reagierte die Justiz im vorauseilendem Gehorsam und um den internationalen Druck zu mildern, in dem sie offiziell die Ermittlungen gegen die „Ergenekon“ aufnahm, als man wiederum in Trabzon in einer verfallenen Hütte Sprengstoff fand, deren Herkunft schnell auf militärische Kreise, die dann auf weitere Kreise zurückgeführt wurde. Es ist bemerkenswert und erschreckend zugleich, wie detailliert und durchwachsen die FETÖ/PDY offenbar die Morde in Auftrag gab, um ein bestimmtes Bild in die Welt zu setzen. Sie sorgte für die offenkundige Rechtslastigkeit der Taten, in dem Sie Täterkreise auswählte, die im rechtsnationalistischen Milleu verkehrten. Sie sorgte auch dafür, dass die Täter nach der Tat das rechtsnationalistische narrativ bedienen und z.B. mit einer hochgehaltenen Fahne zwischen Polizeibeamten posieren. Es wurden bewusst Opfer aus Kreisen ausgewählt, die die Welt beschäftigten sollten. Es war auch beabsichtigt, dass die Welt auf die Türkei blickt, wenn die „Ergenekon“ aus dem Hut gezaubert wird. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass die damaligen „Ergenekon“ oder „Balyoz“ Prozesse mit Genugtuung mitverfolgt wurden, die gegenwärtige „FETÖ/PDY“ Prozesse aber mit Misstrauen begegnet und entsprechend kommentiert wird. Das Mammutverfahren gegen die sogenannte „Ergenekon“ sorgte unter den Augen der Weltöffentlichkeit für Tausende Festnahmen, Hunderte Verurteilungen, darunter hochkarätige Persönlichkeiten aus allen Gesellschaftsteilen, aus der Justiz, Militär, der Polizei, aus Akademikerkreisen, Journalisten – allesamt Menschen, die sich der türkischen Nation verdient gemacht hatten, darunter İlhan Selçuk, einer der bekanntesten türkischen Journalisten. Er war Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet. Oder Türkan Saylan, eine türkische Autorin, Medizinerin und Vorsitzende und Gründerin des türkeiweiten Vereins zur Förderung der zeitgemäßen Lebensweise und des Vereins zum Kampf gegen die Lepra. Keiner dieser Persönlichkeiten erfuhr jedoch die Solidarität, die gegenwärtig den Verdächtigen der FETÖ/PDY zuteil wird. Die Dämonisierung der „Ergenekon“ durch die FETÖ/PDY, die es ja gar nicht gab, sie zeigte Wirkung und sorgte für einen ersten Prozess. Das war aber nicht das Ende der Fahnenstange, denn dann kamen weitere Mammutprozesse wie die „Balyoz“ hinzu, die das Militär zum Ziel hatten. Das Ergebnis war, dass die FETÖ/PDY den gesamten Staat unterwandern konnte, derer sie sich noch nicht habhaft geworden war und darüber hinaus gewann sie nun auch die Deutungshoheit über die Gesellschaft. Das Traurige daran ist, dass dabei die Politik insgesamt versagte, angefangen von der Opposition bis hin zur Regierungspartei. Das Schlimme daran war, dass die Organisationen und Vereinigungen, die um die Rechte und Aufklärung der Morde kämpften oder die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit forderten, darunter die Hrant-Dink-Stiftung, von der FETÖ/PDY instrumentalisiert wurden, um die Mammutprozesse zu legitimieren, Urteile herauszuschlagen und die mutmaßlichen Verdächtigen gesellschaftlich ächten zu lassen. Es ist beschämend, dass die türkischen Medien sowie Journalisten, diesem Schmierentheater Glauben schenkten und ungeprüft, ungefragt übernahmen. Vor allem sie waren maßgeblich daran beteiligt und förderten die Ausweitung der Ermittlungen und Prozesse gegen die unschuldigen Personenkreise die erst nach 9 Jahren ab 2016 juristisch rehabilitiert wurden. Das letzte Urteil zur Farce „Ergenekon“ endete zuletzt Mai 2019 mit Freisprüchen, darunter auch der Freispruch für Nedim Şener.
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– Türkei –
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