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Kommentar: Antisemitismus-Debatte soll vom eigentlichen Problem ablenken

In Deutschland wird gerade versucht, die Stimmung umzuschwenken, weg von der Jerusalem-Frage bzw. Trump-Entscheidung, weg von der palästinensischen Frage, hin zum Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland. Im Grunde wird damit das Problem an sich vom Tisch gefegt, es wird Schubumkehr betrieben.

(Archivfoto: AA)
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Von Nabi Yücel

In Deutschland wird gerade versucht, die Stimmung umzuschwenken, weg von der Jerusalem-Frage bzw. Trump-Entscheidung, weg von der palästinensischen Frage, hin zum Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland. Im Grunde wird damit das Problem an sich vom Tisch gefegt, es wird Schubumkehr betrieben.

Auf einer Kundgebung in Berlin verbrennen am vergangenem Freitag einige Teilnehmer eine selbstgebastelte israelische Fahne, rufen in Sprechchören Parolen wie “Tod Israel” und “Kindermörder Israel”. Die Kundgebung mit rund 1.500 Teilnehmern wird von der Polizei aufgelöst, es werden rund 12 Personalien aufgenommen, Strafanzeigen folgen.

Rund 20 Maskierte werfen am vergangenem Samstagabend auf eine Synagoge in Göteborg Molotowcocktails. Eine jüdische Jugendgruppe sucht daraufhin Schutz im Keller. Zuvor gab es eine Protest-Kundgebung in Malmö gegen die Entscheidung des US-Präsidenten Trump. Drei junge Männer werden verhaftet. Sie sollen aus dem Nahen Osten abstammen, darunter ein Syrer.

Am vergangenem Sonntag brennt während einer Protest-Kundgebung mit rund 2.000 Teilnehmern in Berlin-Neukölln, erneut eine selbstgebastelte israelische Fahne. In Sprechchören skandieren Teilnehmer erneut “Tod Israel” und “Kindermörder Israel”. Zeitgleich findet in Berlin-Kreuzberg eine weitere Kundgebung anlässlich der Entscheidung des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump, die Botschaft der USA von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen. Auch hier werden Parolen skandiert.

Am Dienstag beteiligen sich rund 250 Personen am Berliner Hauptbahnhof an einer erneuten Kundgebung anlässlich der Entscheidung Donald Trumps. Diesmal bleibt es bei provokanten Reden, da die Polizei Auflagen durchgesetzt hat.

Das sind derzeit die Nachrichten, die uns bewegen sollen. Wie man schon erahnen kann, wird derzeit in Deutschland nicht über die Ursache oder Gründe der Proteste diskutiert oder berichtet, sondern die Bilder und Videos aus den Protesten in Berlin sind Teil der Diskussionen und Berichte. Politiker aller Couleur verurteilen die Geschehnisse in Berlin, Göteborg oder anderen europäischen Städten scharf. Inzwischen wird von Antisemitismus gesprochen, die in Deutschland unter „Muslimen“ herrsche und laut Jens Spahn (CDU) seien die „importiert“ worden. Diese reaktionären Plattitüden hätte man bei den Luftangriffen und Einmärschen der IDF (Israel Defense Forces) in den Gaza-Streifen gebraucht, damit das ehrlich rüberkommt.

In Deutschland wird also gerade versucht, die Stimmung umzuschwenken, weg von der Jerusalem-Frage bzw. Trump-Entscheidung, weg von der palästinensischen Frage, hin zum Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland. Im Grunde wird damit das Problem an sich vom Tisch gefegt, es wird Schubumkehr betrieben.

Die unterdrückten Palästinenser sollen keine Sympathien genießen, auch nicht durch jene, die selbst Palästinenser sind und nach Deutschland geflüchtet sind und das Unrecht mitansehen müssen. Die US-Entscheidung und ihre vorhersehbaren Folgen werden klammheimlich durch „muslimischen Antisemitismus“ ersetzt. Inzwischen ist man schon bei der „Shoa“ angekommen, um die Kundgebungen und Proteste zu diskreditieren. Bei rund 5.000 Teilnehmern die bislang in Berlin protestierten, waren es jedoch hochgerechnet 0,1 Prozent, die in Sprechchören die Worte der Palästinenser verwendeten oder die israelischen Fahnen verbrannten.

Alle anderen wollten sich nur mit den Palästinensern solidarisieren, deren Schrei in der Welt seit nunmehr einem Jahrhundert ungehört blieb und allem Anschein nach auch bleiben soll – denn, inzwischen wird auch die Zwei-Staaten-Lösung in deutschen Talkshows offen infrage gestellt. Damit deckt man im Grunde weiterhin die israelische Politik, weitere Siedlungen auf Kosten der Palästinenser zu bauen, bis schließlich kein palästinensischer Boden mehr übrig ist, den man anerkennen kann.

Vorweg: Die israelische Flagge ist wie andere Flaggen von Nationen, ein Symbol eines Nationalstaates. Sie zu verbrennen ist geschmacklos, unwürdig und unter Umständen auch strafrechtlich relevant und gesellschaftlich zu verurteilen. Aber nicht jeder, der die israelische Flagge verbrennt, ist ein Antisemit. Nicht jeder der “Tod Israel” und “Kindermörder Israel” ruft ist ein Antisemit. Seit mehr als 70 Jahre rufen Palästinenser mehr oder weniger “Tod Israel” und “Kindermörder Israel”.

Sie haben nur die Stimme die sie erheben können, auch wenn es für Außenstehende merkwürdig oder schlimm vorkommt. Bei ihnen brennen oder werden schließlich Häuser zerstört, sie werden enteignet, durch Siedlungspläne von ihren angestammten Gebieten herausgedrängt. Ihre Kinder werden verhaftet, ihre Jugendlichen auf offener Straße erschossen, sie werden schikaniert, können sich im eigenen Land nicht frei bewegen. Israelische Siedler greifen zu Selbstjustiz, Minister rufen zu Boykott auf, israelische Straßen dürfen nicht von Palästinensern benutzt werden, Palästinenser dürfen nicht in Busse einsteigen, die gesondert gekennzeichnet sind. Das nennt man zwar Apartheid, aber bislang hat es in diesem Jahrhundert der Aufklärung keinen europäischen Staat sonderlich berührt. Nein, nicht ganz, es regt sich was, zumindest außerhalb von Deutschland.

Kein Deutscher würde sich gefallen lassen, dass sich jemand im heimischen Garten zu schaffen macht, schon gar kein Migrant. Wissen Sie was sie da als Migrant zu hören bekommen würden? Zurecht, auch wenn es auf den ersten Augenblick rassistisch erscheinen mag. In diesem Kontext betrachtet sind die politischen Umstimmungsversuche regelrechte Nebelkerzen, die nicht das Problem an sich angehen, sondern nur verdrehen, umdeuten. Die israelische Expansionspolitik muss gestoppt werden, die Zwei-Staaten-Lösung muss her, statt immer neue Vorwände zu finden, um das in Abrede zu stellen. Schließlich sterben dort Menschen, über das verbrennen von Fahnen oder verbalen Ausfällen ist man längst hinweg, es geht schlichweg um die Existenz eines ganzen Volkes, die sich nicht zur Wehr setzen kann.

Und nein, Frau von Berlins Staatssekretärin für bürgerschaftliches Engagement, Sawsan Chebli. Der Kampf muss vor allem gegen die Ignoranz geführt werden, die zudem wohl glaubt, Palästinenser seien vom Himmel auf Israel und Umgebung gefallen und wären nur auf Stunk aus. Sie können sich noch so oft vor die deutsche Politik positionieren, mit ihrer palästinensischen Migrationsgeschichte haben sie nicht ein einziges Mal wahrnehmbar ihre Stimme für die Palästinenser selbst erhoben.

Tun Sie es, fordern sie die selben Menschenrechte auch für Palästinenser, wie Sie sie für jüdische Bürger einfordern und erst dann werden sie auch glaubhaft, können den moralischen Zeigefinger erheben. Zum schämen ist das, dass sich deutsche Politker und Politikerinnen wie Sie, sich mehr über das verbrennen von Davidstern-Flaggen und Sprechchören aufregen, als über den Bruch des Völkerrechts in der Causa.

Für die Palästinenser und viele Kundgebungsteilnehmer in Berlin ist die Politik des Staates Israel schuld für die Zustände in Palästina. Diese Schuldzuweisung kann nicht pauschal als Kritik an dessen Volk, Land und Kultur verstanden oder gleichgesetzt werden. Wer versucht dies zu unterstreichen, der hat das Wesen des Totalitarismus nicht verstanden und schützt zudem diese. Eine Kritik an einem politischen System bedeutet für dieses System selbst, dass sie infrage gestellt, untergraben wird und daher in aller Form scharf verurteilt und sanktioniert werden muss.

Das ist das Wesen des Totalitarismus, wie man sie zu Stalins Zeiten erfuhr. Verwandelt sich also Deutschland in ein totalitäres politisches System, in der Kritik, auch wenn sie scharf ausfällt oder ungeahnte Ausmaße annimmt, systematisch verurteilt wird? Noch einmal: Übergriffe auf jüdische Bürger oder Synagogen sollten anstandslos verfolgt und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. So etwas gehört geächtet. Aber Kritik auf einer Kundgebung, die verbal geäußert wird oder mitunter für unser monotones Auge schlimme Zustände erahnen lässt, kann pauschal nicht auf die gesamten Teilnehmer abgewälzt und als „antisemitisch“ abgeurteilt werden.

Solche pauschalen Urteile wie sie Jens Spahn (CDU) fällte, verdecken nur das eigene Grundübel, denn die allermeisten antisemitisch motivierte Straftaten gingen von Rechtsextremisten selbst aus. Die Stimmungsmache über „importierte“ Probleme, die ihre Ressentiments gegenüber der israelischen Politik auch in Deutschland nachgehen, haben also nichts, aber auch gar nichts mit der hiesigen Realität zu tun. Die Realität ist, dass die Menschen hier wie auch in Palästina oder in Israel Frieden einfordern und dass das Töten aufhört.

Die hiesige Realität ist die, wenn man schon darauf hinaus will, dass seit Anfang 2017 knapp 10.000 rechtsextrem-motivierte Straftaten in Deutschland festgestellt wurden. Von Januar bis September registrierte die Polizei 9426 rechts-motiviere Straftaten, darunter 498 Gewaltdelikte. Bei den Attacken wurden 302 Menschen verletzt. Die Zahlen sind vorläufig und steigen erfahrungsgemäß durch Nachmeldungen. Davon waren 522 antisemitisch-motivierte Straftaten, mehr als 91 Prozent, also 479, wurden von Rechtsextremen selbst ausgeübt.

Weder berief sich Spahn, noch Güler, Giffey oder ein anderer Politiker oder Politikerin auf diese Zustände, um auf die wiedererstarkte Ausländerfeindlichkeit oder Antisemitismus im Land deutlich zu machen, noch wurden konkrete Maßnahmen eingeleitet, um dem Einhalt zu gebieten. Stattdessen werden nun Teile der Gesellschaft, also Migranten und Muslime, just dann zur Aussprache gebracht und unter Generalverdacht gestellt, somit die Debatte in eine andere Richtung gelenkt, wenn die israelische Politik verurteilt wird.

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