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„Türkische Therapie“: Wie die Pockenimpfung aus dem osmanischen Harem nach Europa kam

Als Lady Mary Wortley Montagu, die Frau des englischen Botschafters am osmanischen Hof in Konstantinopel, 1717 beobachtet, wie Haremsfrauen ihre Kinder absichtlich mit Pocken infizieren, glaubt sie erst an eine barbarische Praxis.

Topkapi Palast in Istanbul (Foto: pixa)
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Istanbul (nex) – Als Lady Mary Wortley Montagu, die Frau des englischen Botschafters am osmanischen Hof in Konstantinopel, 1717 beobachtet, wie Haremsfrauen ihre Kinder absichtlich mit Pocken infizieren, glaubt sie erst an eine barbarische Praxis.

Bald jedoch merkt sie, dass hinter diesem Vorgehen eine Idee steht, die sich in weiterer Folge vom Osmanischen Reich aus in alle Welt verbreiten und bis heute weitergepflegt werden sollte. Was die Frau des Botschafters miterlebte, war die Grundlage für die heute verbreitete Praxis der Schutzimpfung.

Noch drei Jahre zuvor hatte in der damals von 600 000 Menschen bewohnten Hauptstadt des Osmanischen Reiches eine Pockenepidemie das Leben jedes zehnten Kindes gefordert. In ganz Europa starben jährlich fast 400 000 Menschen an der stark ansteckenden Krankheit. Ein Heilmittel war weit und breit nicht in Sicht.

Nachdem der osmanische Sultan Achmed III. von Reisenden und seinen Ärzten über eine in Europa noch unbekannte Heilbehandlung erfahren hatte, im Zuge derer Mediziner ihren gesunden Patienten absichtlich Krustenstücke von nur leicht erkrankten Pockenpatienten verabreichten – was zur Folge hatte, dass diese nur kurz und leicht, aber nicht mehr tödlich erkrankten – wollte er diese Vorgehensweise auch in seinem Reich testen.

So kam es zur ersten groß angelegten Immunisierungsaktion der Geschichte – und sie geriet zum vollen Erfolg. Die Kinder zeigten zwar für einige Tage leichte Krankheitssymptome, aber zu tödlichen Infektionen kam es dank der Aktivierung des Immunsystems nicht mehr.

Für Lady Wortley Montagu ein Grund, die „türkische Therapie“ auch im eigenen Land zu propagieren. Sie regte an, dass Ärzte aus dem Vereinigten Königreich nach Konstantinopel reisen sollten, um aus den dortigen Erfahrungen Anregungen mitzunehmen – und wurde erst verlacht.

Wissentlich eine Erkrankung an sich selbst oder an anderen herbeizuführen, galt als undenkbar und gefährlich. Wie die spätere Forschung zeigte, war die Praxis der Immunisierung keine Premiere im globalen Maßstab. In China waren ähnliche Formen des Kampfs gegen Infektionskrankheiten bereits im 10. Jahrhundert bekannt, aber auch im arabischen Raum und unter amerikanischen Sklaven konnte man diesen Ansatz bisweilen beobachten.

Lady Montagu selbst ließ ihre Kinder in der Türkei impfen. In England konnte sie immerhin erreichen, dass  König Georg I., nachdem Tests an Waisen und Verbrechern positiv verlaufen waren, am Ende seine eigenen Enkel vom bekannten damals praktizierenden niederländischen Arzt und Botaniker Jan Ingenhousz impfen ließ.

Von da an schwand der Widerstand gegen diese Praxis. Es sollte bis zum Juni 1769 dauern, dass der Arzt Edward Jenner im englischen Berkeley einen gesunden achtjährigen Jungen absichtlich mit den Pocken infizierte, dem sechs Wochen zuvor bereits ein Serum aus den Bläschen von Kuhpocken gespritzt worden war.

Von dieser Zeit an war die Schutzimpfung auch in der europäischen Fachwelt als wirksame Form der Immunisierung gegen die Pocken akzeptiert. Die „türkische Therapie“ hat auf diese Weise ihren internationalen Durchbruch erlebt.