Start Kultur Wutbürger Buchrezension: „Gefährliche Bürger“ – Die neue Rechte greift nach der Mitte

Wutbürger
Buchrezension: „Gefährliche Bürger“ – Die neue Rechte greift nach der Mitte

"Giesa erklärt auf nachvollziehbare und sachlich korrekte Weise Kontinuitäten und Parallelitäten innerhalb der deutschen Rechten und zeichnet diese von der Weimarer Zeit bis in die 1990er Jahre nach."

(Foto: screenshot)
Teilen
„Gefährliche Bürger“: Sind die Wutbürger tatsächlich Gegner der westlichen Moderne?
Eine Rezension von Christian Rogler
„Die Moderne rückabwickeln?“ Eigentlich klingt das gar nicht mal wie eine schlechte Idee, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Gräueltaten vor allem von Europa aus im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte in die Welt getragen wurden und vor allem in welchem Ausmaß. Der Vorwurf, „gegen die Werte der Aufklärung und der Französischen Revolution“ zu sein, hat in den letzten Jahren zu Recht vieles von seinem Schrecken verloren, und es zeichnen sich innerhalb des Gemeinwesens Entwicklungen ab, die darauf hindeuten, dass die Gewissheiten von Gestern schon die Objekte des Zweifels von Morgen sein können.
Wohin diese Entwicklung gehen wird, ist unklar, und nicht wenige haben dabei auch kein gutes Gefühl. Einer davon ist der frühere FDP-Europawahlkandidat, Ökonom und Autor Christoph Giesa, der nach seinem eher knapp gehaltenen Kompendium vom Frühjahr dieses Jahres, in dem er sich schwerpunktmäßig mit der AfD beschäftigte, nun mit einem sehr umfassenden Werk aufwartet, das den Titel „Gefährliche Bürger: Die neue Rechte greift nach der Mitte“ trägt. Der Autor erklärt den Wandel im deutschen Bürgertum, der zunehmend vom Bildungs- zum Primitivbürger verläuft, und spannt gleichzeitig einen Bogen zu den geistesgeschichtlichen Traditionslinien der „Konservativen Revolution“ der 1920er Jahre bis hin zu Kräften wie Pegida und der AfD heute.
Giesa liefert dabei eine recht lebensnahe Analyse der intellektuellen Neuen Rechten im Westdeutschland der späten 1980er Jahre, vor allem ihrer damaligen Speerspitzen in der „Jungen Freiheit“, dem kurzlebigen „Republikanischen Hochschulbund“ oder diversen Burschenschaften. Er erklärt auf nachvollziehbare und sachlich korrekte Weise Kontinuitäten und Parallelitäten innerhalb der deutschen Rechten und zeichnet diese von der Weimarer Zeit bis in die 1990er Jahre nach. Dass er dabei gezielt und teilweise durchaus künstlich Nähen konstruiert, die nicht da sind, während er Unterschiede kleinredet, die fundamental sind – so mag mancher Denker der Konservativen Revolution zweifellos „radikal“ gewesen sein, so wie auch Hitler „radikal“ war, aber dennoch war die ideologische Gegnerschaft zwischen beiden so tiefgreifend, dass Ersterer eben nicht unbedingt jene inspiriert, die sich heute aus taktischen Gründen nicht auf Hitler berufen -, ist auf Grund seines eigenen politischen Standpunktes nachvollziehbar und macht die Arbeit nicht grundlegend unbrauchbarer.
Dass Personen wie Götz Kubitschek oder auch Björn Höcke an Ideen der Konservativen Revolution anknüpfen und auf diese Weise zweifellos in der Tradition dieser Neuen Rechten stehen, analysiert Giesa zweifellos in korrekter Weise. Allerdings überschätzt er maßlos die tatsächliche Bedeutung dieser Ideen für die jüngsten innenpolitischen Entwicklungen. Heute sind die Leute, die sich noch in den 1980er und 1990er Jahren für die Ideen der „Konservativen Revolution“ eingesetzt haben – so sie sich nicht davon wegentwickelt haben – allenfalls Trittbrettfahrer. Giesa deutet ja auch zu Recht an, dass Ideen, die noch vor 20 oder 30 Jahren selbst in der damals gesellschaftlich marginalisierten Rechten als zu radikal erschienen, heute in der Mitte der Gesellschaft und einem verunsicherten bis verrohten Bürgertum Anschluss finden. Aber dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass diese aus der Mitte, aus der Mehrheit selbst gekommen sind und nicht erst von Rechtsaußen dort hineingetragen wurden.
Was wir heute erleben, ist eine rassistische und sozialdarwinistische Bewegung sui generis, die nicht aus irgendeiner Tradition kommt, sondern aus deren Verschwinden. Die heutigen Krakeeler von Heidenau und ihre Stichwortgeber weisen tatsächlich kaum Schnittpunkte auf mit Persönlichkeiten wie Kubitschek oder Höcke. Es ist zum einen ein Lumpenproletariat, das nicht die „Sezession“ oder die „Junge Freiheit“ liest, sondern Bild und RTL konsumiert, das sich nun in den Kommentarspalten austobt und Flüchtlinge drangsaliert. Darüber hinaus basteln Formate wie Welt, Focus, Cicero und ähnliche seit etwas mehr als zehn Jahren mit der „Islamkritik“ an einer Vulgärfassung jenes Nationalismus, etatistischen Homogenisierungsstrebens und Antisemitismus des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die einer permissiven und hyperindividualistischen Gesellschaft angemessen ist und auf diese Weise in Kreisen verkauft werden kann, die zuvor pauschalen Dämonisierungskampagnen gegenüber gesamten Bevölkerungsgruppen gegenüber nicht aufgeschlossen waren.
Dies aber nicht, weil sie begriffen hätten, dass so etwas unmoralisch und gefährlich wäre, sondern weil sie solche mit der „spießigen“ Eltern- und Großelterngeneration und der verhassten Adenauer-Ära assoziierten und dies deshalb nicht zu ihrem hedonistischen „Spaß“-Horizont passen mochte. Der Pöbel von Freital und Heidenau ist nicht im Geringsten von konservativen Vorstellungen, nicht einmal von solchen Sehnsüchten erfasst. Er ist eher eine Neuauflage der Jakobiner, bestehend aus Personen, die jene pawlowschen Reflexe verinnerlicht haben, die – und hier ist der in Teilen der tatsächlichen „Neuen Rechten“ anklingende radikale Kulturpessimismus durchaus auch angebracht – ihnen nicht zuletzt von Mainstreammedien anerzogen worden sind. Sie hassen die Einwanderer, vor allem die Muslime, dafür, dass diese sich nicht vollständig assimilieren und vermeintlich oder tatsächlich nicht „modern“ genug sind, sich also dem Ideal der Gleichheit entziehen, die ja immer auch die implizite Drohung miteinschließt, diejenigen zu eliminieren, die aus irgendwelchen Gründen nicht gleich, sondern anders sein wollen.
Es ist ein Nationalhedonismus, der dem Islam seiner Verbindlichkeit wegen zürnt – und die „Islamkritik“ stellt eine adaptierte Neuauflage der 68er „Kulturrevolution“ dar, nur dass der Klassenfeind nun nicht mehr die eigenen Eltern aus der „Tätergeneration“ sind, sondern die „autoritären“ und „patriarchalischen“ Persönlichkeiten, die in ihren Familien die religiösen Werte des Islam tradieren und die man nun mit autoritären Mitteln daran hindern will. Die der Bundeskanzlerin „Fotze“ zurufenden, auf Facebook den Tod von Flüchtlingen bejubelnden und gegen deren Kinder „Flammenwerfer“ empfehlenden Orks hätten überhaupt kein Problem damit, wenn ihre – ohnehin selten – vorhandenen Kinder mit zehn oder elf Jahren in freizügiger Kleidung zur Schule gehen und dort im Sexualkundeunterricht von „Puppe Lutz“ Kondome ausgehändigt bekommen würden.
Immerhin wäre das für sie eine Form der radikalen Abgrenzung zu den ihnen verhassten muslimischen „Kopftuchmädchen“ und deren stark von der Religion geprägtem Lebensstil. Sie würden den steinzeitmarxistischen Ideen Sarrazins und Buschkowskys, die unter anderem einen Kinderkrippenzwang ab dem ersten Lebensjahr vorsehen, alleine schon dadurch etwas abgewinnen können, weil sie sich davon versprechen, dass „die Ausländer“ so schon frühzeitig dem eigenen Elternhaus entrissen und vom Staat zur Homogenität erzogen würden. Aus dem gleichen Grund wären sie auch gegen das Kinderbetreuungsgeld. Von daher stimmen aber auch vielfach die Zuordnungen nicht, die Giesa trifft. Der Islamhass ist weder „rechts“ noch konservativ, sondern eher ein Garant dafür, dass auch weiterhin keine tatsächlich rechtskonservative Kraft in Deutschland entstehen wird.
Die Abneigung gegen Flüchtlinge ist ein Zeichen der Unfähigkeit, Pluralität ertragen zu können – aber nicht, weil man irgendeinem „Volkskörper“ ein organisches Eigenleben zumessen würde, sondern ganz einfach deshalb, weil man die Gleichheitsideologie bereits so weit verinnerlicht hat, dass man eine homogene Bevölkerung als äußeres Indiz für die Verwirklichung derselben betrachtet. Die Primitivisierung, die Giesa anspricht, selbst kam über Jahrzehnte hinaus aus der Mitte, aus den Medien, aus der Politik, und sie kam von oben. Die Grundregeln an Moral und Anstand, die von der 68er Generation zu „faschistischen Sekundärtugenden“ erklärt und verteufelt wurden, gingen verloren, jeder Tabubruch wurde zu einem Akt der „Befreiung“ erklärt. Aber nun fällt mit Fremdenhass und Rassismus das letzte Tabu, das in der Nachkriegszeit noch aufgerichtet worden war.
Das Problem, das Giesa sich – was aus seinem politischen Selbstverständnis heraus auch verständlich ist – nicht eingestehen will: „Westliche Werte“, „Menschenrechte“, „Aufklärung“, „offene Gesellschaft“ sind im besten Fall zu Leerformeln geworden, im schlimmsten Fall ist die Berufung auf diese Ausdruck abgrundtiefer Heuchelei oder ideologischer Voreingenommenheit. Die Verrohung im Inneren zeigt sich auch im außenpolitischen Auftreten. Es ist eben nicht mehr jedermann vermittelbar, warum man sich im Ukrainekonflikt erst verhalten hat wie der Elefant im Porzellanladen und anschließend einseitig der Russischen Föderation eine Hegemonialpolitik zum Vorwurf macht, die man seitens westlicher Staaten seit Jahr und Tag in zum Teil noch wesentlich aggressiverer Weise betreibt.
Oder es wirkt höchst skurril, wenn man die Türkei und deren Präsidenten bei jeder Gelegenheit dämonisiert, aber gleichzeitig Saudi Arabien hofiert und den Iran geradezu wie einen verlorenen Sohn in der eigenen „Wertegemeinschaft“ zurückbegrüßt. Der tiefe Vertrauensverlust gegenüber den Eliten und das Aufkommen von Alternativmedien unterschiedlichsten Hintergrundes und unterschiedlichster Qualität verstärken das Misstrauen, das jedoch längst zuvor schon vorhanden war. Vor allem aber steht die Arroganz der Herrschenden dem Fanatismus der Pegida-Leute vielfach in nichts nach, etwa wenn Fraktionschefs Abweichlern in der Europapolitik für die Ausübung ihres freien Mandats Konsequenzen androhen, wenn mit zweifelhaften oder sogar gefährlichen „Bildungsplänen“ über die Rechte und Interessen von Eltern drübergefahren wird oder wenn unter der Bemühung ebenso unhaltbarer apokalyptischer Schauermärchen wie der angeblich unmittelbar bevorstehenden „Klimakatastrophe“ weitreichende Belastungen der Bürger und der Unternehmen durchgedrückt werden.
Ganz zu schweigen auch von der zweifelhaften Sanktionspolitik gegenüber Russland, die nicht zuletzt der deutschen Wirtschaft schadet – und mit einer sehr einseitigen Sicht auf den zu Grunde liegenden Konflikt begründet wird, die vielen zu Recht als zynisch erscheint. Die Kritik von links und rechts am real existierenden politischen Konsens, den Giesa aufrechterhalten sehen möchte, ist in vielen Fällen berechtigt, bisweilen sogar in einer fundamentalen Form (vor allem an der in zahlreichen Bereichen tatsächlich in beängstigender Weise zutage tretenden Einseitigkeit medialer Aufarbeitung von Problematiken). Auf der anderen Seite ist jedoch auch die Kritik am Großteil der Akteure, die diese artikulieren, und deren politischer Agenda sehr oft berechtigt.
Die Arbeit von Akteuren wie Christoph Giesa ist – unabhängig davon, inwieweit man all seinen Schlüssen folgen will – jedoch umso wichtiger, als er zu Recht davor warnt, vom Regen in die Traufe zu gelangen. Er zeigt nicht nur sinnvolle Strategien auf, um extremen Vorstellungen und Ressentiments entgegenzuwirken, er erklärt auch auf eingängige Weise, dass von den Protagonisten der nunmehrigen Fundamentalopposition keine positiven Impulse ausgehen, die unser Zusammenleben weiterbringen könnten, sondern außer jenem der Zerstörung keine Konzepte haben.
Die Moderne sollte deshalb vielleicht nicht unbedingt „rückabgewickelt“, sondern vielmehr überwunden und historisiert werden, sodass man ihre positiven Ansätze ebenso wie die vormoderner Zeiten bewahren und weiterentwickeln kann, aber auch ihre Irrtümer und Unzulänglichkeiten begreift. Die Impulse dazu können aber wohl in erster Linie nur von außen als frischer Wind kommen – nicht zuletzt aus den Einwanderercommunitys, die überkommenen deutschen Befindlichkeiten und Komplexen zu Recht reserviert begegnen.