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Gastbeitrag
Çelik: „Für die Türkei ist eine vollständige Abkehr von der NATO unrealistisch“

Zwischen Bündnistreue und strategischer Autonomie: Die Türkei, die NATO und die islamisch-nationalistische Positionierung

(Foto: Selma Kar)
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Ein Gastbeitrag von Özgür Çelik

Die Türkei steht seit ihrer NATO-Mitgliedschaft im Jahr 1952 im Spannungsfeld zwischen westlicher Integration und dem Wunsch nach geopolitischer Eigenständigkeit.

Während das atlantische Bündnis sicherheitspolitischen Schutz vor der sowjetischen Bedrohung bot, stellte es zugleich auch eine Herausforderung für die kulturelle und politische Souveränität der Türkei dar.

Diese Ambivalenz spiegelt sich insbesondere in den Positionen islamisch-konservativer und nationalistischer Kräfte wider, die das westliche Bündnis nicht nur als Schutzschirm, sondern auch als potenzielle Einschränkung nationaler Interessen wahrnehmen.

Diese Analyse beleuchtet die historischen Brüche, aktuellen Konfliktlinien und strategischen Optionen der Türkei im Kontext ihrer NATO-Mitgliedschaft – aus der Perspektive nationaler Interessen und unter besonderer Berücksichtigung islamisch-konservativer und nationalistischer Deutungsmuster.

NATO-Beitritt und ideologische Frühreaktionen (1952–1980)

Die Entscheidung Ankaras, der NATO beizutreten, war sicherheitspolitisch motiviert: Die Türkei sah sich an der Südostflanke des Kalten Kriegs einem unmittelbaren sowjetischen Expansionsdruck ausgesetzt. Der Beitritt zur NATO brachte militärische Aufrüstung, wirtschaftliche Unterstützung und politische Anerkennung mit sich.

Gleichzeitig jedoch artikulierten islamisch-konservative Stimmen – etwa aus dem späteren Milli-Görüş-Lager um Necmettin Erbakan – früh Kritik: Der NATO-Beitritt bedeute eine kulturelle Entfremdung vom islamischen Osten und eine faktische außenpolitische Abhängigkeit von Washington.

Spätestens mit dem Johnson-Brief 1964 – in dem die USA Ankara offen von einer Intervention in Zypern abhielten – manifestierte sich ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Bündnis und seiner Verlässlichkeit im Krisenfall.

Erbakan entwickelte daraufhin das Konzept einer „islamischen Alternative“, das in den 1970er Jahren in der Idee eines „Islam-NATO“-ähnlichen Bündnisses kulminierte. Dieses Konzept unterstreicht die Ambivalenz vieler islamisch-konservativer Akteure: Sie lehnen westliche Dominanz ab, übernehmen jedoch gleichzeitig deren strategische Denkmodelle.

Wandel nach dem Kalten Krieg: Regionale Ambitionen, globale Spannungen

Mit dem Zerfall der Sowjetunion veränderte sich das sicherheitspolitische Umfeld der Türkei grundlegend. Ankara strebte zunehmend eine aktive regionale Rolle an, insbesondere im Nahen Osten, Zentralasien und im östlichen Mittelmeer. Gleichzeitig blieben die sicherheitspolitischen Abhängigkeiten vom Westen bestehen – was die Widersprüche der türkischen Außenpolitik weiter zuspitzte.

Spätestens ab 2003, mit der US-Invasion im Irak, gewann die strategische Eigenständigkeit neue Bedeutung. Die Ablehnung der US-Truppenstationierung durch das türkische Parlament markierte einen symbolischen Bruch mit der uneingeschränkten Bündnistreue.

Seither wurde der Diskurs über „nationale Interessen“ zunehmend von islamisch-konservativen und nationalistischen Narrativen geprägt, die sich gegenseitig verstärkten.

Aktuelle Konfliktlinien: Syrien, östliches Mittelmeer und innenpolitische Mobilisierung

1. Syrien-Politik und die YPG/PYD-Frage

Die wohl deutlichste Belastungsprobe für das türkisch-amerikanische Verhältnis in jüngster Zeit stellt die US-Unterstützung der YPG/PYD in Nordsyrien dar.

Ankara betrachtet diese Gruppen als Ableger der PKK, die in der Türkei, der EU und den USA als Terrororganisation gelistet ist. Die militärische Kooperation Washingtons mit der YPG in der Anti-IS-Koalition wurde in der Türkei als fundamentaler Bündnisbruch gewertet.

2. „Mavi Vatan“ und die Konflikte im östlichen Mittelmeer

Die türkische „Blaues Vaterland“-Doktrin beschreibt das Streben nach maritimer Souveränität in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer.

In diesem Kontext sieht sich Ankara mit griechisch-zypriotischen Allianzen konfrontiert, die durch US-amerikanische und französische Unterstützung gestärkt werden. Die türkische Regierung betrachtet dies als Teil einer regionalen Einkreisungspolitik, der man mit aktiver Seemachtpolitik und bilateralen Allianzen – etwa mit Libyen – begegnet.

3. Bündnispolitik als innenpolitisches Mobilisierungsthem

Islamisch-konservative und nationalistische Kreise in der Türkei nutzen die NATO-Kritik zunehmend auch zur innenpolitischen Legitimierung einer selbstbewussteren, teils konfrontativen Außenpolitik.

Die Betonung nationaler Souveränität und der „eigenen Wege“ entspricht dabei nicht nur einem geopolitischen Kalkül, sondern auch einem ideologischen Selbstverständnis, das sich gegen westliche Normsetzung richtet.

Strategische Optionen: Zwischen Blockbindung und multipolarer Autonomi

Die Türkei verfolgt derzeit eine balancierende Außenpolitik zwischen NATO-Verpflichtungen, regionaler Führungsambition und punktuellen Kooperationen mit Nicht-NATO-Mächten wie Russland oder China. Diese Politik ist riskant, aber auch Ausdruck eines strategischen Realismus, der angesichts multipolarer Weltordnungen an Bedeutung gewinnt.

Für die Türkei ist eine vollständige Abkehr von der NATO weder realistisch noch wünschenswert – zu groß sind die sicherheitspolitischen und technologischen Abhängigkeiten. Gleichzeitig bedeutet Bündnistreue für Ankara nicht bedingungslose Gefolgschaft. Vielmehr strebt man nach einer funktionalen Allianz, die Raum für strategische Autonomie lässt.

Eine neue außenpolitische Doktrin auf der Grundlage nationaler Interessen?

Die türkische Außenpolitik der letzten zwei Jahrzehnte zeigt eine klare Tendenz: weg von traditioneller Bündnistreue, hin zu einer interessenbasierten, souveränitätszentrierten Außenpolitik. Islamisch-konservative und nationalistische Diskurse haben dieses Umdenken ideologisch flankiert und in der politischen Mitte salonfähig gemacht.

Für außenpolitische Think Tanks und Entscheidungsträger in Europa und Nordamerika bedeutet das: Der Dialog mit der Türkei muss sich an geopolitischen Realitäten orientieren – nicht an normativen Erwartungen. Ein belastbares Verhältnis zu Ankara erfordert eine klare Analyse türkischer Interessen und deren ideologischer Rahmung.

Die Türkei wird in den kommenden Jahren versuchen, ihr internationales Gewicht durch eigenständige Initiativen zu erhöhen. Dabei bleibt die NATO-Mitgliedschaft ein strategisches Instrument – aber nicht mehr der alleinige Rahmen außenpolitischen Handelns.


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.


Zum Autor

Özgür Çelik studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie an der Universität Duisburg-Essen. Seine Fachgebiete sind die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sowie zwischen der EU und der Türkei, türkische Politik, die türkische Migration und Diaspora in Deutschland