Ein Gastkommentar von Klaus Jürgens
Selten hat eine Wahl zum Europäischen Parlament so viel Aufsehen und Aufmerksamkeit erregt. Die Wahl 2024 war einfach anders – Kommentatoren hatten im Vorfeld der vier Tage dauernden Abstimmung gemäß den nationalen Traditionen gewarnt, dass rechtsextreme politische Parteien einen großen Sieg erringen könnten.
Wie wir inzwischen wissen, haben sie jedoch keine Mehrheit errungen, was bei aller Bescheidenheit ohnehin nie wirklich zu erwarten war. Dennoch – wir sind mit einer schockierenden Realität konfrontiert: Jeder vierte europäische Wähler hat auf dem Wahlzettel eine rechtsextreme Partei angekreuzt.
Genauer gesagt: In drei Ländern, nämlich in Frankreich, Italien und Österreich, haben die rechtsextremen Bewegungen die Nase vorn. In zwei weiteren Ländern, nämlich in Deutschland und den Niederlanden, erreichten sie den zweiten Platz. Obwohl sie als einzelne politische Kandidaten auf nationalstaatlicher Ebene antreten, schließen sie sich nach ihrer Wahl unter dem Dach transnationaler Gruppierungen zusammen.
Im Falle der rechtsextremen Tendenzen verfügen die ‚Europäischen Konservativen und Reformisten‘ über 73 Sitze, die Gruppierung ‚Identität und Demokratie‘ über 58 und die fraktionslosen Abgeordneten einschließlich der deutschen AfD-Politiker über 45 Sitze. Zusammengenommen ergibt dies 176 Abgeordnete des Europäischen Parlaments (MEP).
Prozentual gesehen hat also knapp ein Viertel der gesamten Wählerschaft rechtsextrem gewählt – während die einen von einer bemerkenswerten Erfolgsgeschichte sprechen (natürlich nur, wenn man mit rechtsextremen Ideen sympathisiert), läuten bei anderen eher die Alarmglocken und sagen, was für ein irritierendes Ergebnis. Alle Zahlen korrekt am Mittwoch, Vormittag Brüsseler Ortszeit, aber nur kleinste Abweichungen werden, wenn überhaupt, noch erwartet.
Die Gesamtzusammensetzung des Europäischen Parlaments 2024-2029 bleibt jedoch Mainstream: Wie in der Vergangenheit führt die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), d.h. die Konservativen mit 186 Sitzen plus die Sozialisten und Demokraten (S&D) mit 135 Sitzen das Feld an.
Nimmt man dann noch die Liberalen (Gruppierung Renew) oder vielleicht die Grünen hinzu, kommt man auf eine qualifizierte Arbeitsmehrheit von über 361 Sitzen, was die erforderliche Zahl ist. Man könnte sagen, dass es sich um eine Mehrheit der Mitte handelt, vielleicht sogar noch mehr, wenn man sich für die Unterstützung der Liberalen anstelle der oftmals außerparlamentarisch agierenden Grünen entscheidet.
Trotz der oben erwähnten Mehrheit der etablierten politischen Gruppierungen im neuen EP sind die Ergebnisse in einigen Ländern definitiv ein ernsthafter Weckruf für eine Reihe genau dieser Parteien der Mitte, wobei Frankreich ein perfektes Beispiel dafür ist. Nach der dramatischen Niederlage gegen Marine Le Pen‘s rechtsextremes RN hat Präsident Emmanuel Macron sofort vorgezogene Neuwahlen für Ende Juni dieses Jahres ausgerufen.
Dabei handelt es sich um Wahlen für das nationale Parlament und nicht um Präsidentschaftswahlen, die erst in ein paar Jahren anstehen. Beobachter in Paris und darüber hinaus wundern sich über Macrons Motive – will er die Flut eindämmen und seinen (bisherigen) eigenen Wählern jetzt sagen, dass sich Richtung Rechtsaußen zu entscheiden ein katastrophaler Fehler war?
Was die europäischen Mainstream-Parteien von rechtsextremen Politikern übernehmen sollten, ist das fehlende Verständnis für die Sorgen und Anliegen der ‚normalen‘ Wähler, denen die eigene (leere) Brieftasche näher liegt als hochtrabende außenpolitische Erklärungen. Die FdI in Italien, die AfD in Deutschland, die FPÖ in Österreich und die RN in Frankreich haben genau das getan, indem sie geschickt obwohl letztendlich heuchlerisch die Wählerschaft aus der Arbeiterklasse und der Mittelschicht angesprochen haben.
Die europäischen Polit-Eliten müssen endlich erkennen, dass das sogenannte ‚Haus Europa‘ nichts als ein Konstrukt für wohlhabende Europäer war; der durchschnittlich entlohnte Arbeiter oder die untere Mittelschicht hatten nie ernsthaft davon profitiert. Wer fuhr denn wirklich von Hamburg nach Strasbourg um in (billigeren) französischen Supermarkt drei Camembert einzukaufen?
Wie viele Studenten profitierten wirklich von ERASMUS und grenzüberschreitenden Studien seit Einführung des Programms 1986, fünf, acht Prozent aller Studierenden, wenn überhaupt? Richtig, Schengen reduzierte Warteschlangen an den Binnengrenzen aber sobald die erste internationale Krise einsetzte wurde es ausgesetzt, man denke an Österreich und andere Mitgliedsstaaten?
Und vor allem – wenn nach der Pandemie, der Energiekrise, der Lebenshaltungskrise, EU-Politiker von Klimawandel und internationaler Politik reden, ohne die Sorgen der einfachen Menschen auch nur ansatzweise ernst zu nehmen – Österreich sage und schreibe 52 Euros Energiekostenzuschuss pro Jahr für einen 4-Personen-Haushalt (!), mich wundert es nicht das Populisten genau darauf eingehen und auf Stimmenfang gehen, die EP-Wahl nur das jüngste schockierende Beispiel.
Viele Themen zum Nachdenken, und ein sehr interessanter politischer Sommer liegt mit Sicherheit vor uns.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.