Ein Kommentar von Ernst Wolff
Die Finanzminister der Euro-Staaten haben sich Anfang der Woche in Brüssel getroffen. Auf der Tagesordnung standen ein gemeinsamer Eurozonen-Haushalt, eine Finanztransaktions- und eine Digitalsteuer, sowie Italiens Defizit und der Euro-Rettungsschirm.
Vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Krise im europäischen Finanzsystem und der immer deutlicher zutage tretenden Zerfallstendenzen der EU war von vornherein klar, dass nur ein Thema im Mittelpunkt stehen konnte: der Euro-Rettungsschirm.
In der Tat wurde die Debatte über den Eurozonen-Haushalt verschoben, während sowohl die Einführung der Steuern als auch der Streit mit Italien ergebnislos vertagt wurden. Dafür drehte sich eine 16-stündige Nachtsitzung fast ausschließlich um mögliche Bankenpleiten und deren Konsequenzen.
Hintergrund dieser Schwerpunktsetzung ist die Drohkulisse, die sich sowohl im globalen als auch im europäischen Finanzsystem aufgebaut hat. Die Geldinjektionen und Zinssenkungen, mit denen das System seit 2008 künstlich am Leben erhalten wurde, haben riesige Blasen an den Aktien-, Anleihen- und Immobilienmärkten erzeugt, die zu platzen drohen.
Zu diesen Problemen haben sich in den vergangenen Wochen und Monaten zahlreiche weitere hinzugesellt, so der EU-Handelsstreit mit den USA, der Brexit, die italienische Bankenkrise, die Auswirkungen der Sanktionen gegen Iran, die Kapitalflucht aus den Schwellenländern, ein immer undurchsichtigerer Derivatesektor und eine einsetzende globale Rezession.
Allein der letzte Punkt stellt die Europäische Zentralbank (EZB) vor eine unlösbare Aufgabe: Im Fall einer Rezession – also eines Rückgangs des Wirtschaftswachstums – steuert die Zentralbank im Normalfall dagegen, indem sie Geld ins System pumpt und die Zinsen senkt, um so Investitionen zu fördern und den Wirtschaftskreislauf wieder in Gang zu bringen.
Die EZB hat aber in den vergangenen zweieinhalb Jahren bereits mehr als eine Billion Euro ins System gepumpt und der Leitzins liegt seit drei Jahren bei Null, der Strafzins für Banken, die ihr Geld bei der EZB „parken“, sogar bei minus 0,4 Prozent.
Deshalb hat die EZB kaum noch Möglichkeiten, gegen eine Rezession anzusteuern. Im Extremfall blieben ihr nur eine Leitzinssenkung in den Minusbereich und das Auslösen einer noch größeren Geldflut. Das allerdings hätte zur Folge, dass die Blasen an den Märkten noch weiter aufgepumpt würden, um schlussendlich mit noch schlimmeren Konsequenzen als bisher zu platzen.
Wie man sieht, haben wir es zurzeit mit einer Gemengelage zu tun, die das Katastrophenpotenzial der Krise von 2007/2008 bei weitem übertrifft. Was also haben die EU-Finanzminister beschlossen, um das Schlimmste abzuwenden?
Folgt man ihren Äußerungen auf der Pressekonferenz am Dienstagmorgen, dann müssen sie wahre Wunder bewirkt haben. Deutschlands Finanzminister Olaf Scholz sprach von einer „Sternstunde der EU“, sein französischer Amtskollege LeMaire immerhin von einem „wichtigen Schritt, der die Eurozone erheblich stärken wird“. Beide waren sich einig, dass „die EU nun besser für zukünftige Krisen gerüstet“ sei.
Klopft man Gegenstand und Ergebnisse der Verhandlungen jedoch auf ihren Inhalt ab, so kann man angesichts dieser Äußerungen nur von einer vorsätzlichen Täuschung der Öffentlichkeit sprechen.
Tatsächlich ging es nämlich in erster Linie darum, sich auf mögliche zukünftige Bankenzusammenbrüche in der Eurozone vorzubereiten. Zu diesem Zweck wurde beschlossen, den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM – also die im Zuge der Eurokrise 2012 gegründete EU-Bank – noch stärker zu einem Kontrollgremium der Gläubigerländer – insbesondere Deutschlands – auszubauen. Außerdem wurde bekräftigt, dass der ESM im Fall einer neuerlichen Krise wieder mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zusammenarbeiten werde.
Weiterhin wurde festgelegt, dass im Fall drohender Staatspleiten auch gegen den Willen der Gläubiger Schuldenschnitte gegen die betroffenen Staaten verfügt werden können und dass für bankrotte Banken 60 Mrd. Euro bereitgestellt werden, um sie auch dann noch am Leben zu erhalten, wenn ihre eigenen Abwicklungsfonds ausgeschöpft sind.
Nicht vorgeschrieben wurde den Banken der Abbau fauler Kredite – eines der derzeit größten Probleme – oder die Schaffung von wirksamen Verlustpuffern. Beides wäre dringend nötig, würde die Banken aber finanziell belasten. Nicht einmal angesprochen wurden die kriminellen Machenschaften zahlreicher Großbanken im Cum-Ex-Skandal.
Dafür wurde nach Angaben des ehemaligen „Handelsblatt“-Chefredakteurs Steingart verfügt, dass im Notfall „zusätzliche Milliarden innerhalb von zwölf Stunden – also über Nacht – vom Rettungsschirm in den Bankensektor gepumpt werden können.“ In anderen Worten: Die Finanzminister der EU haben den nicht gewählten Gremien der EU einen Freibrief erteilt, in der bevorstehenden Krise ohne Zustimmung der Parlamente zugunsten der als „too big to fail“ geltenden Finanzinstitute zu handeln.
Was könnte den Zustand der EU-Schein-Demokratie und die vollständige Unterwerfung der Organisation unter die Interessen des Finanzsektors angesichts solcher Beschlüsse besser charakterisieren als die Aussage des deutschen Finanzministers, es handle sich bei derartigen Maßnahmen um eine der „Sternstunden“ der Europäischen Union…?
Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.
Ernst Wolff
Ernst Wolff ist freier Journalist und Autor des Buches “Finanz-Tsunami: Wie das globale Finanzsystem uns alle bedroht“.
Wolff, geboren 1950, aufgewachsen in Südostasien, Schulzeit in Deutschland, Studium in den USA. Der Journalist und Spiegel-Bestseller-Autor (»Weltmacht IWF«) beschäftigt sich seit vierzig Jahren mit der Wechselbeziehung von Politik und Wirtschaft. Sein Ziel ist es, die Mechanismen aufzudecken, mit denen die internationale Finanzelite die Kontrolle über entscheidende Bereiche unseres Lebens an sich gerissen hat: »Nur wer diese Mechanismen versteht und durchschaut, kann sich erfolgreich dagegen zur Wehr setzen.«