Ein Gastbeitrag von Michael Thomas
Heute ist es schon wieder passiert. Es geschieht dauernd hier auf Samos, so oft, dass man nur die wenigsten dieser Gelegenheiten mitbekommt.
Ich stehe in vierter oder fünfter Position in einer Warteschlange. Vor mir, direkt an der Tür, ein älterer Mann, der sich der sich umwendet und die junge Mutter mit dem Kinderwagen registriert, die sich soeben hinter mich gestellt hatte. Er winkt sie nach vorn, öffnet ihr die Tür und hilft ihr, den Kinderwagen hineinzubugsieren. Das ist hier so üblich.
Über die Wirkung des Weggehens: Warum so freundlich?
Mir selbst, dem erkennbar älteren Graukopf, wird häufig die Tür geöffnet, ein Sitzplatz angeboten und Vortritt gelassen. Gerade junge Leute springen häufig bei, um irgendeine Hilfestellung zu leisten, was immer es auch sei.
Ich habe soetwas durchaus bereits kennengelernt; auf vielen Reisen durch Ägypten und Tunesien bin ich häufig weit jenseits normaler Touistenzentren in solche Gemeinschaften und Gesellschaften eingetaucht. Aber darauf war ich nicht vorbereitet, als wir nach Samos kamen.
Es fällt mir leicht, mich in dieses Lebensgefühl zu integrieren und selbstverständlich meinem Umfeld zurückzugeben, was es mir gibt. Vielen fällt es nicht so leicht, sich auf einen Schwatz einzulassen, obwohl man bloß mal eben ein paar Eier kaufen wollte.
Der Freude des Wiedererkennens in den Augen des Briefträgers zu vertrauen, den man unvermittelt auf der Straße trifft. Geschweige denn, die unerwartete Nähe zu einem Fremden zuzulassen, der plötzlich keiner mehr ist, weil man Geschichten getauscht und ein Quentchen Zeit miteinander verbracht hatte.
Was den Tag eben bunter macht: da stehe ich in der Post, vor mir eine Mutter mit ihrem fröhlichen Töchterchen auf dem Arm, dem ich lustige Gesichter schneide und das vor Freude gluckst.
Mehrere Frauen drehen sich um und beteiligen sich fröhlich. Die Mutter lacht mich an und berichtet mir, ihre Tochter hätte soeben geflüstert, dass ich wie ihr Opa aussähe.
Aber das ist Samos.
Eine Insel, deren Menschen so alt wie die Zeit sind. Seit tausenden von Jahren wird ihre Heimat von den unterschiedlichsten Schiffen und Matrosen, Handelsleuten, Soldaten und Piraten angesteuert. Schnell haben sie verstanden, dass Freundlichkeit besser schützt als Gewalt und alle sind sie gern geblieben und haben Samos zu ihrer Heimat gemacht
Überall auf der Insel findet man Kapellen, Kirchen jeder Größenordnung und wo sich kein Platz und kein Geld für sie fand, da stellt man winzige Puppenkirchen auf, stellt kleine Öllampen und Heiligenbildchen hinein und pflegt sie liebevoll.
Die griechisch-orthodoxe Glaubensgemeinschaft ist von freundlicher Sanftmut gekennzeichnet und wer auch immer nur an den Einen glaubt, befindet sich mitten im Kreis der Samioten. Es muss das Gefühl einer Bereicherung sein, dass die Menschen auf Samos neugierig auf andere reagieren lässt.
Kleopatra wählte Samos zu ihrer Urlaubsinsel, zahllose Herrscher wechselten sich ab, aber jeder einzelne von ihnen gewährte Samos nicht nur eine Sonderstellung in seinem jeweiligen Reich, sondern auch weitreichende Rechte. Samos war einmal unermesslich reich und beherbergte die berühmtesten Kapitäne sowie eine riesige Handelsflotte, die weit jenseits des Mittelmeeres unterwegs war.
Das Fremde war für Samioten nie etwas Beängstigendes, Fremde brachten immer neue Geschichten, neue Kenntnisse, neue Güter und wertvolle Schätze auf die Insel. Jahrhundertelang karrten die großen Handelsfamilien von Samos märchenhafte Mengen Gold in das bereits längst versunkene Heraion, dem ehemals größten Tempel der Hera, der je gebaut worden ist.
Nicht nur die Handelsgüter, sondern auch die exzellenten Oliven und der Honig von Samos waren Legende und von Frankreich bis Ägypten heiß begehrt.
Aber Samioten verlassen sich aufeinander, weil sie es häufig müssen. Im Winter ist ihre Insel Ziel wütender und manchmal leider zerstörerischer Stürme. Da heißt es zusammenhalten, helfen und unterstützen, denn am nächsten Tag kann es jedem das eigene Dach abreißen und Fluten ins Haus drücken. Wir haben die Wut dieser Stürme selbst erlebt. Sie können Felsbrocken von zehn Kilo hochstemmen und viele Meter weit werfen.
Sie türmen Wellen auf, denen keine Wand standhalten kann und im Frühling beim Aufräumen heißt es nicht, ob, sondern nur wie viele katastrophale Schäden angerichtet worden sind.
Im Norden, direkt an der Küste, bauen die Menschen nur niedrige Häuser mit meterdicken Wänden und oftmals vermauern sie über den Winter die Fenster, die zur See schauen, oder schrauben dicke Holzplatten davor. In den Bergen ereignen sich Wetterlagen, die man sich kaum ausdenken kann, denn dort treffen die großen und schweren Winde ungebremst in die Bergdörfer.
Auch deshalb ist jeder, der einem auf Samos begegnet und den man nicht kennt, eigentlich nur ein Freund, den man noch nicht kennt. Er könnte einem eines Tages aus einer misslichen Lage helfen oder man könnte an ihm die gottgegebene Pflicht zur Mitmenschlichkeit erfüllen.
Er könnte mir, wenn er nicht von hier wäre, spannende Geschichten aus seiner Heimat berichten, eine spannende Stunde des Erzählens bei einem Kaffee bieten und ein Anbieter oder Abnehmer von Philosophie sein, denn philosophiert wird gern auf Samos.
Ich habe Deutsche erlebt, die keinen Zugang dazu finden und insgesamt immer argwöhnen, „die wollen was von einem“.
Ja, das wollen sie.
Sie wollen Geschichten erzählen und hören, sie wollen einen kennenlernen. Wir lagen sommertags an einem Strand und neben uns eine fröhliche Familie. Es dauerte keine fünf Minuten, und wir erfuhren, dass ihre Familie von Samos stammt, er ein kanadischer Jude sei, aber Samos abgöttisch liebe und gerad dieses Jahr ein Haus dort erwerben wolle.
Die Gespräche seien im Gang, die Verträge würden geschrieben. Der Hund, so fröhlich wie seine Besitzer, habe es nicht so mit der Sonne, er wühle lieber unter einer Sonnenliege in den Kieseln.
Wir kennen schon tausend Geschichten – und ich finde diesen einen Augenblick, in dem ich die nette Kassiererin aus dem Supermarkt im Gewimmel beim Straßenfest entdecke und die mir fröhlich zuwinkt, einfach großartig.
Denn das ist Samos.
Der Nachbar ist Samos, der mir lächelnd seine Hand auf die Schulter legt, mir kiloweise Zitronen aus seinem Garten in die Tasche schaufelt, („Bio! Alles Bio!“), mich informiert, dass er der Inhaber eines größeren Hotels sei und ich mich sofort an ihn wenden solle, falls irgendetwas fehle.
Das Geheimnis der unglaublichen Schönheit von Samos ist neben seiner hinreißenden Landschaft ihre Gemeinschaft von Menschen, die Freunde sind und jeden dazu machen wollen, der ihre fröhliche Sanftmut und Entspanntheit teilt … und Zeit für sie hat.
Es sollte für mich nach meinem Arbeitsleben ein Ort mit tiefer Geschichte sein, ein friedvoller Ort mit einer fröhlichen und entspannten Gemeinschaft.
Ich habe ihn gefunden.
Samos ist für Menschen eine jahrtausendealte Insel, bestanden von ebenso alten Olivenbäumen, die die Weisheit und Gelassenheit aus dieser Zeit in sich tragen, ob sie sich in den Augen eines kleinen, verträumt auf der Straße spielenden Mädchens zeigt oder im sanften Lächeln eines Greises, der in der Sonne auf seinem Stuhl vor seiner Tür sitzt und auf die Straße schaut und freundlich winkt, wenn man ihn grüßt.