Ein Gastbeitrag von Çağıl Çayır
„Die niederträchtigen Morde des NSU, die Toten in Mölln und Solingen und Hanau, sie sind Opfer eines Hasses, der mitten in Deutschland, mitten in dieser Gesellschaft seine Wurzeln hat. Nach wie vor. Und deshalb sind wir alle, im Angesicht dieser Opfer, traurig, betroffen, auch wütend. Aber wir sind nicht ohnmächtig!“, sagte der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Festrede zum 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei.
„Immer wieder haben Entscheidungsträger in der Politik und Intellektuelle in der Bundesrepublik im Laufe der Zeit – ob gewollt oder ungewollt, spielt eigentlich keine Rolle – ‚Türkenfeindlichkeit‘ geschürt,“ stellte auch der Migrationsexperte Prof. Dr. Karl-Heinz Maier-Braun in seinem Dossier zum 60. Jubiläum des Anwerbeabkommens mit der Türkei fest.
„Nach heutigem Erkenntnisstand scheint sicher zu sein, dass beim ‚NSU-Komplex‘ staatliche Behörden ihren Aufgaben nicht gerecht wurden, aus unschuldigen Opfern verdächtige Mittäter gemacht wurden und dass unterm Strich ein Fall von ‚Staatsversagen‘ zu konstatieren ist. Da die Möglichkeit zumindest einer Mitwisserschaft staatlicher Stellen bisher nicht endgültig und vollständig ausgeräumt werden konnte, bleibt weiterhin viel Raum für Spekulationen und beklemmende Verschwörungstheorien. Das ist die eine Seite der Medaille.
Auf der anderen Seite steht die Frage, ob wir bei der Aufdeckung der wahren NSU-Zusammenhänge und der Mordserie neben einem ‚Staatsversagen‘ auch von einem ‚Medienversagen‘ sprechen können?
Fest steht, dass die ‚Erkenntnisse‘ der Ermittlungsbehörden, die polizeilichen Deutungsangebote für die Täterschaft und auch meist spekulative Mutmaßungen über Hintergründe der Mordserie (‚Ausländer-Milieu‘, organisierte Kriminalität, Drogenszene usw.) von vielen Medien unkritisch übernommen und öffentlich verstärkt wurden; dass andere Quellen dagegen kaum ausgewertet wurden und insgesamt viel zu wenig eigenständig und investigativ recherchiert worden ist.
Familienmitglieder, aber auch Freundinnen und Freunde oder Kolleginnen und Kollegen der Ermordeten wurden von Teilen der Presse nicht als trauernde Opfer beschrieben, sondern häufig als verdächtige Mitwisser oder gar als schweigende Mittäter in Erwägung gezogen,“ schrieb der Geschäftsführer der Wissenschaftsstiftung der IG Metall, der Otto-Brenner-Stiftung, Jupp Legrand 2014 in seinem Vorwort zur medienkritischen Studie über die NSU-Morde „Das Unwort erklärt die Untat“.
„Was wir brauchen, ist wirklich eine totale Sensibilisierung für die Betroffenen. Und dafür müssen wir uns als Medienvertreter einfach auf viel intensiver mit den Betroffenen auseinandersetzen. Wie würden Sie sich das wünschen? Wie ist Ihre Sichtweise auf die Medienberichterstattung? Dafür bräuchten wir eine sehr intensive Analyse und eine Selbstkritik“, sagte die Rechtsextremismusexpertin Andrea Röpke in ihrem Interview (Dlf) zum 10. Jahrestag der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU).
„Türkenhass geht alle an“, appellierte damals der taz-Redakteur Daniel BAX, einen Monat nach der plötzlichen Selbstenttarnung des NSU: „Deutschland muss jetzt zeigen, dass es seine türkischstämmigen Mitbürger mit ihren Sorgen nicht alleinlässt. Die Politik hat da bereits wichtige Zeichen gesetzt, sich bei den Opfern entschuldigt und eine Trauerfeier angesetzt. Doch auch die Gesellschaft muss zeigen, dass sie mit dieser Minderheit solidarisch ist.“
Noch ein Jahr zuvor, referierte der Lehrer Dr. Hartmann Wunderer auf dem 48. Deutschen Historikertag in Berlin 2010 über die Geschichte unseres Türkenbildes, das immer noch von „Nichtverstehenwollen, Ablehnung und Geringschätzung bis Verachtung bestimmt ist“:
„Mitteleuropa wurde seit der Eroberung von Konstantinopel von Türkentraktaten schier überflutet. Dabei dominierte klar eine dramatisierende Übertreibung der tatsächlichen oder vermeintlichen Türkengefahr. Berichtet wurde von brutalen Überfällen und Eroberungen der ‚Türken‘. Türkendrucke berichteten in rascher Folge von den Belagerungen und Kämpfen sowie insbesondere von brutalen Greueltaten dieser neuen Gefahr aus dem Osten. Fingierte kirchliche Briefe machten die Runde, in denen Schauergeschichten erzählt wurden.“
2010 veranstaltete die Österreichische Akademie der Wissenschaften sogar die erste internationale Tagung zum Thema „Die Türken erinnern. Ausbildung und Überlieferung des Türkengedächtnisses im internationalen Vergleich“:
„Wir wollen dem konstruierten Feindbild ‚Türke‘ auf den Grund gehen, denn die Angst vor einer so genannten ‚Bedrohung‘ aus dem Osten erscheint in Österreich sehr tief im kollektiven Bewusstsein verankert. Dieser propagandistisch gerade in Wahlkampfzeiten besonders ausgeschlachteten Thematik setzen wir wissenschaftliche Fakten entgegen“, erklärten Dr. Johann Heiss vom Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) sowie Mag. Dr. Johannes Feichtinger vom Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW.
„Man hat treffend von einem ‚Angulus-Syndrom‘ (D. Mertens) gesprochen. Bedrohungsobsessionen, Festungsdenken gehörten, auch in der Renaissance, zum Zeitstil; so bezeichnete Enea die Ungarn in biblischer Metaphorik als ‚Mauer und Schild der Christenheit‘. Inwieweit sich derartige Obsessionen bis heute im kollektiven Unterbewusstsein des Europäers eingenistet haben, bleibe offen“, schrieb der Historiker Johannes Helmrath 2005 in seinem Aufsatz über Papst Pius II., dem „Vater“ unseres anti-türkischen Selbstverständnisses. Zuvor glaubte man noch an die Verwandtschaft mit Türken:
„Traditionell, noch bei Salutati und dem frühen Enea Silvio, hatte man sie wohl aufgrund der etymologischen und (seit 1076) geographischen Affinität zu Nachkommen der Trojaner erklärt. Es gab im Westen sogar Stimmen – selbst 1453 –, die den Erfolg der Türken als verdient, als späte Rache der Trojaner an den Griechen deuteten, das heißt an den verhassten schismatischen Byzantinern. Diese Filiation der Türken über den Trojanermythos aber wird nun gekappt.
Die gegenwärtig erlebten Türken können nicht von den Trojanern (Teucri) abstammen, auf die sich ja zahlreiche westliche Völker, allen voran die Römer selbst, später die Franken, Briten etc. zurückführten; die Plünderer Konstantinopels seien vielmehr Turci, die, wie andere Völker unklarer östlicher Herkunft auch, Asiaten = Barbaren sind. Für sie stand ein aus der Antike stammender Passepartout angeblicher Inferiorität bereit: das Skythentum.
Dass man den Türken die adelnde Herkunft von Troja ab- und die niedere skythische zusprach, schien nur eine wissenschaftlich-philologische Korrektur zu sein; doch manifestierte sie zugleich, hochpolitisch, nicht weniger als die kulturelle Exklusion der Türken aus der alten mythologischen Gemeinschaft, aus Europa. Sie werden buchstäblich barbarisiert!
Mit ‚dem Türken‘ haben wir das Musterbeispiel einer Feindbildkonstruktion vor uns. Mochten auch die Gräueltaten der osmanischen Truppen ein fundamentum in re bilden, so wussten die Humanisten andererseits durchaus von der Bildung Mehmeds II. und der exquisiten Kultur an seinem Hof. Bemerkenswert bei Enea Silvio ist aber vor allem die Tatsache, dass komplementär zur philologischen Exklusion der Türken die ökumenische Inklusion der orthodoxen christlichen Griechen in Europa gehört.
Die Frankfurter Rede Piccolominis spielte auch eine Schlüsselrolle für den erst später beginnenden nationalen Diskurs der deutschen Humanisten. Die Verbindung von Europa und Nation schon in diesem Text ist kein Zufall. Europa sollte ja elementar durch seine Nationen und ihren Nationalismus geprägt werden.
In Eneas Rede will der Lobpreis großer Traditionen sehr bewusst protonationale Gefühle wecken: Es war ja Enea, der Italiener, der zum ersten Mal überhaupt deutschen Zuhörern zuruft: ‚Vos Germani / Ihr Germanen!‘, der an die germanische Tapferkeit, an protorömische Autochthonie, die Siege der Germanen über die Römer appelliert. Auch die großen Kaiser des „deutschen Mittelalters“, Ottones, Heinrici, Friderici etc., ruft der Humanist aus Italien als Kreuzfahrer-Heroen und Vorbilder der kommenden Türkenkrieger an. Zugleich wird der Kampf der christiana communitas gegen die Türken durch Aufzählung alttestamentarischer Helden, der Siege der Griechen über die Perser im welthistorischen Horizont eines gerechten Abwehrkampfs gegen ‚Asien‘ stilisiert.“
„Die Nachricht vom Fall Konstantinopels, am 29. Juni 1453, genau einen Monat nach dem Ereignis zuerst in Venedig bekannt geworden, erreichte dann binnen kürzester Zeit alle Höfe und Städte; innerhalb von zwei bis drei Jahren wurde in bislang nie erreichter Intensität eine die gesamte lateinische Christenheit erfassende Öffentlichkeit im Zeichen der Türkenfurcht hergestellt. Wegen der Vielfalt und der Gleichzeitigkeit der angewendeten publizistischen Mittel wird man dies behaupten können, auch wenn ein anerkannter Begriff der Öffentlichkeit fehlt.
Denn Flugschrift, Lied und Fastnachtsspiel, höfische Darbietungen, Brief, Türkentraktat und Historiographie, Hof- und Reichstagsrede, Volkspredigt und Ablaßkampagnen, monatliche Bittprozessionen, tägliches Glockenläuten am Mittag und nunmehr auch der Einsatz der Druckerpresse – ‚das früheste einwandfrei gesicherte Datum für ein Erzeugnis der Schwarzen Kunst überhaupt, der 22. Oktober 1454, ist das Ausgabedatum eines gedruckten Ablaßzettels zugunsten des Türkenkrieges, und das vom Dezember 1454 stammende ‚älteste vollständig erhaltene gedruckte Buch‘ bietet in deutschen Reimen Eyn manung der christenheit widder die durken, eine Flugschrift von 6 Blatt, die im Sinne des Kaiserhofes bzw.
Enea Silvios die christenheit zu fridden und einigkeit zum Zweck des Türkenkriegs aufruft – alle diese Mittel wirkten zusammen und beweisen einen zuvor nie erreichten hohen Grad der Propagierung und wohl auch der Akzeptanz des Türkenthemas seit dem Fall Konstantinopels“, erläuterte der Historiker Dieter Mertens (UFR) 1991 in seinem Fachaufsatz „Europäischer Friede und Türkenkrieg im Mittelalter“.
„Es ist evident geworden, dass sich das über den Gegner Sagbare offenbar auf den (Anti-)Türkendiskurs des 15. Jahrhunderts beschränkte, das heißt, auf die seit 1453 nachdrücklich behauptete Bedrohung ganz Europas durch die osmanischen Türken. Für die gedruckten Texte bedeutete das, dass die Propagierung des Türkenkriegs im Vordergrund stand.
Ablässe, Ermahnungen zum Türkenkrieg, polemische Traktate, drastische Schilderungen aus dem Verlauf des Türkenkriegs, Briefe und Reden gegen die Türken gehörten bis 1500 zu den Hauptprodukten der europäischen Pressen. Die wenigen positiven Annäherungen turkophiler Autoren, wie Giovanni Mario Filelfos Heldenepos über Sultan Mehmed II. oder ‚aufgeklärtere‘ Strategien wie das ambitionierte Koranübersetzungsprojekt des spanischen Kardinals Juan de Segovia, gelangten im 15. Jahrhundert nicht zum Druck.
Produzenten wie Texte zeigen deutlich, dass der Türkendiskurs im 15. Jahrhundert durch sehr viel ältere religiöse Dynamiken bestimmt war, die auf die hochmittelalterlichen Kreuzzüge, das gelehrte Islambild der Scholastik und den Kampf gegen die Heterodoxie zurückgingen“ stellte 2013 die Historikerin Karolina Döring (LMU) in ihrer katalogischen Studie über den für unseren Antitürkismus grundlegendenden „Türkenkrieg und Medienwandel im 15. Jahrhundert“ fest.
Dennoch ist die lange und folgenschwere Geschichte des Antitürkismus in Europa den meisten immer noch nicht bekannt. Dabei geht es nicht nur darum, wie man „die Türken“, sondern auch darum wie man „die Europäer“ und „die Deutschen“ – sich selbst – versteht. Denn die vorurteilshafte Aus- und Abgrenzung von Türken prägt vor allem unser Selbstbild.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.
Autor
Çağıl Çayır studierte Geschichte und Philosophie an der Universität zu Köln und ist als freier Forscher tätig. Çayır ist Autor von „Runen in Eurasien. Über die apokalyptische Spirale zum Vergleich der alttürkischen und ‚germanischen‘ Schrift‘“ und ist Gründer der Kultur-Akademie Çayır auf YouTube. Seine Arbeiten wurden international in verschiedenen Fach- und Massenmedien veröffentlich
Quellen
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim Festakt der Türkischen Gemeinde in Deutschland zum 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens am 5. Oktober 2021 in Berlin. Bundespräsidialamt, https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2021/10/211005-Festakt-Tuerkische-Gemeinde.html.
Karl-Heinz Meier-Braun, 60 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei. Ein Notenwechsel, der Deutschland verändert hat. Migrations- und Integrationsforum Baden-Württemberg, Oktober 2021, https://www.lpb-bw.de/anwerbeabkommen-tuerkei.
Elke Grittmann/Tanja Thomas/Fabian Virchow, Das Unwort erklärt die Untat. Die Berichterstattung über die NSU-Morde – eine Medienkritik. Studie der Otto Brenner Stiftung, AH 79, Frankfurt/Main 2015, https://www.otto-brenner-stiftung.de/berichterstattung-ueber-die-nsu-morde/.
Andrea Röpke/Sebastian Wellendorf, Berichterstattung zum NSU. „Wir brauchen eine totale Sensibilisierung für die Betroffenen“. Deutschlandfunk, 04.11.2021,https://www.deutschlandfunk.de/berichterstattung-zum-nsu-wir-brauchen-eine-totale-100.html. Daniel Bax, Kommentar Reaktion auf rechten Terror. Türkenhass geht alle an. Die Tageszeitung, 04.12.2011, https://taz.de/Kommentar-Reaktion-auf-rechten-Terror/!5106135/.
Hartmann Wunderer, Die Erfindung des Fremden: Das Türkenbild in Mittelalter und Früher Neuzeit, 48. Deutscher Historikertag Berlin 2010. Epoche, Geschichtsdidaktik. Sektion, Kulturen im Konflikt? Zur Begegnung von Orient und Okzident, Vortrag am 29.09.2010, https://www.historikertag.de/Berlin2010/index.php/wissenschaftliches-programm/epochenuebersicht/details/428-Hartmann%20Wunderer.html.
Feindbild „Islam“ oder wie „die Türken“ erinnert werden. Internationale Tagung in Bad Radkersburg fragt nach der Entstehung und heutigen Bedeutung des „Türkengedächtnisses“. Österreichische Akademie der Wissenschaften Institut für Sozialanthropologie und Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte/Centre for Southeast European History, Universität Graz/Stadtgemeinde Bad Radkersburg, Bad Radkersburg 14.-16.10.2010, https://www.oeaw.ac.at/isa/das-institut/weitere-artikel/news-detail/feindbild-islam-oder-wie-die-tuerken-erinnert-werden-internationale-tagung-in-bad-radkersburg-fragt-nach-der-entstehung-und-heutigen-bedeutung-des-tuerkengedaechtnisses.
Johannes Helmrath, Enea Silvio Piccolomini (Pius II.) – Ein Humanist als Vater des Europagedankens?, Themenportal Europäische Geschichte, 2007, https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1327.
Dieter Mertens, Europäischer Friede und Türkenkrieg im Spätmittelalter, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Zwischenstaatliche Friendensverwaltung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Köln [u.a.]: Böhlau, 1991, S. [45] – 90, https://freidok.uni-freiburg.de/data/2781.
Karoline Döring, Türkenkrieg und Medienwandel im 15. Jahrhundert. Mittelalter, 12. Mai 2013, https://mittelalter.hypotheses.org/1193.