Ein Gastbeitrag von Nabi Yücel
Die Türkei erhöht den Druck auf Schweden, die in die NATO aufgenommen werden will. Die schwedische sozialdemokratische Regierung hat mit parteipolitischen Spielen die derzeitige Lage des Landes aber selbst zu verantworten.
Kurz vor Weihnachten 2020 überrollten die Oppositionsparteien des schwedischen Reichstags die Regierung mit einer Forderung. Die schwedische Regierung unter der Regie der Sozialdemokraten wurde aufgefordert, eine NATO-Aufnahme-Option einzuplanen. Darüber war die damalige und jetzige Außenministerin Ann Linde nicht entzückt und fuhr den Reichstag harsch an. Über die Sicherheitspolitik des Landes entscheide die Regierung, nicht der Reichstag, erklärte sie genervt.
Mehr als ein Jahr später ist der Grundsatz der Außenministerin im sozialdemokratischen Kabinett plötzlich nicht mehr so wichtig. (Quelle) Hatte die Opposition etwa den richtigen Riecher, während die Sozialdemokraten Realpolitik verfolgten?
Nach dem Rücktritt des ehemaligen Ministerpräsidenten Stefan Löfven im November 2021 musste sich Magdalena Andersson von der Sozialistischen Arbeiterpartei die Unterstützung des Reichstags sichern, um Ministerpräsidentin zu werden. Sie brauchte noch eine Stimme. Dabei half ihr ein Deal mit der kurdischstämmigen Amineh Kakabaveh von den schwedischen Linken.
Als Gegenleistung für ihre einzige Stimme bei der Ministerpräsidentenwahl versprachen die Sozialdemokraten der parteilosen aber noch als Linke-Reichstagsabgeordnete geltenden Kakabahev unter anderem, die sogenannte kurdische Selbstverwaltung in Syrien zu unterstützen, die Zusammenarbeit mit der völkisch-kurdischen PYD – die 1993 von der Terrororganisation in Syrien gegründet wurde – zu vertiefen und die Selbstverwaltung finanziell zu unterstützen.
Dieser Kuhhandel geriet schnell ins Visier der schwedischen Opposition, die das einerseits als verfassungswidrig einstuften, andererseits daran monierten, dass eine einzelne Reichstagsabgeordnete die Außen- und Sicherheitspolitik Schwedens zeichne und die designierte Regierung damit erpresse. Außenpolitik sollte zudem gut durchdacht sein, vorzugsweise in der EU verwurzelt sein und den Interessen Schwedens dienen, so die Opposition. Aber hier hatte stattdessen Amineh Kakabaveh viel mehr Gewicht, dass die in die Krise geratene Regierung benötigte, um erneut regieren zu können.
Dafür nahm die Regierung einen Deal von Amineh Kakabaveh an, die sich mit ihrer Linken-Partei im Krach befindet, jedoch nicht von der Partei ausgeschlossen werden kann, so lange sie Abgeordnete im schwedischen Reichstag ist. Als dieser Deal von Amineh Kakabaveh von der sozialdemokratischen Regierung angenommen wurde, weil man diese einzelne Stimme benötigte, gab es jedoch weder eine konkrete Kriegsgefahr in der Ukraine, noch hatte Europa irgendwelche Anzeichen dafür. Nun ist aber der Krieg am Rande Europas nicht nur ausgebrochen, sondern droht auch auf die umliegenden Länder überzugreifen.
Die Gefahr, dass dies auch auf Schweden übergreifen könnte, dessen war man sich offensichtlich nicht bewusst oder hatte es schlichtweg unterschätzt. Dieser außen- und sicherheitspolitische Alleingang rächt sich jetzt, weil die Türkei die NATO-Anträge Schwedens und Finnlands blockiert, solange beide Regierungen keine konkreten Schritte unternehmen, die Ankara zufriedenstellen.
Ankara fordert u.a., dass Schweden sein Waffenembargo gegen das Land aufhebt und mehrere gesuchte türkische Staatsbürger ausliefert. Aber die Hauptforderung ist brisanter und trifft den Deal zwischen Kakabahev sowie die schwedische Regierung direkt: Schweden soll ihre Kontakte zur YPG, zur PYD und zur SDF sofort abbrechen, die die Türkei als Ableger der terroristischen PKK betrachtet.
Schweden muss nun entscheiden, wozu sie in der Lage ist, aus diesem Forderungskatalog zumindest einer Vielzahl nachzukommen, um Ankara zum Einlenken zu bewegen. Machbar wäre das, denn die schwedischen Regierungen haben bislang eine seltsam gespaltene Haltung gegenüber der kurdischen Selbstverwaltung in Syrien sowie deren Aktivitäten und Mitglieder bzw. Anhänger offengelegt.
Einerseits ist der schwedische Staat zufrieden damit, dass die sogenannte völkisch-kurdische Selbstverwaltung bzw. deren bewaffneten Arme den sogenannten Islamischen Staat zurückschlagen konnten – mithilfe der Anti-IS-Koalition der USA, dass die Selbstverwaltung sehr viele schwedische IS-Anhänger inhaftiert hat und dort verköstigt. Damit wäre zumindest die innere Sicherheit Schwedens gewährleistet.
Andererseits verweigert das Land aber regelmäßig Aktivisten der PKK aus Syrien oder der Türkei (samt ihren Ablegern), die schwedische Staatsbürger zu erlangen; mit der Begründung, dass diese Organisationen in Nordsyrien systematisch Verbrechen begehen oder darin verwickelt sind. Auch die Gerichte des Landes sind der Ansicht, vor allem Migrationsgerichte, dass die YPG/PYD/SDF tatsächlich enge Verbindungen zur PKK hat.
Der schwedische NATO-Antrag hängt jetzt in der Luft. Möglicherweise ist das Veto Ankaras eine Möglichkeit, auch Druck auf die USA oder gar den Niederlanden, Frankreich oder Deutschland auszuüben – die ebenfalls die YPG/PYD/SDF unterstützen. Dann könnten neueste US-amerikanische Kampfjets oder ein Fototermin mit Joe Biden den verflixten Knoten lösen.
Diese Ansicht teilen in den langen Fluren von Beştepe in Ankara aber sehr wenige.
Es geht hierbei um viel mehr, als nur eine Handvoll unausgereifter F-35 Kampfjets, ausgedienten Patriot-Raketen oder aufgemotzten F-16 Kampfjets. Es geht um den Ruf eines Präsidenten im eigenen Land, der das Los vor sich her trägt, die Welt bestehe aus mehr als fünf Ländern – in Anspielung auf den UN-Sicherheitsrat und deren inkonsequente, von Eigeninteressen geprägten Handeln.
Es liegt nun an der schwedischen Regierung selbst, ob die Beibehaltung des verhängten Waffenembargos gegen die Türkei die eigenen Interessen konterkarieren. Zudem muss Schweden die Beziehungen zur YPG/PYD/SDF auf den Prüfstand stellen und abwägen, ob diese wichtiger sind als die Verteidigungsgarantien, die die NATO zu bieten hat.
Der im Herbst 2021 getroffene Kuhhandel der schwedischen Regierung von Ministerpräsidentin Magdalena Andersson mit der Reichstagsabgeordneten Amineh Kakabaveh zeigt, dass der Regierung realpolitische Erwägungen nicht fremd sind. Aber diesmal muss das Interesse Schwedens – nicht das der Sozialdemokraten oder einer Kakabaveh – die Entscheidung treffen, will sie die Privilegien der NATO genießen.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.
Auch interessant
– NATO-Krise –
Schwedischer Journalist: Einwand der Türkei nicht unberechtigt
Ist der türkische Präsident Erdogan im Recht, Finnland und Schweden die Aufnahme in die NATO zu verweigern?
Schwedischer Journalist: Einwand der Türkei nicht unberechtigt