Start Panorama Ausland Chodschali-Massaker Zum 31. Jahrestag des Massenmords von Chodschali

Chodschali-Massaker
Zum 31. Jahrestag des Massenmords von Chodschali

Heß: "Der vorzeitige Tod des großen armenischen Friedensaktivisten Georgi Vanyan, der als einer der ganz wenigen Armenier die Realität des Verbrechens von Chodschali anerkannt hatte, ist ein herber Rückschlag für die um Frieden und Aussöhnung zwischen Armeniern und Aserbaidschanern Bemühten gewesen."

In der Ortschaft Hodschali haben armenische Einheiten in der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 1992 über 613 Zivilisten (Frauen, Kinder und Alte) mit einer unglaublichen Brutalität auf bestialische Weise ermordet und die Ortschaft komplett zerstört.
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Ein Gastbeitrag von Dr. Michael Reinhard Heß

Gedenken wird oft als Begegnung der Gegenwart mit der Vergangenheit konzipiert. In dieser Sichtweise verbirgt sich ein Paradox. Denn das erinnerte Vergangene ist einerseits für immer abgeschlossen und besteht anderseits ewig, weil es nicht mehr veränderbar ist. Die erinnerte Vergangenheit ist anwesend und abwesend zugleich.

Wenn man sich an Schreckliches erinnert, kann dieses Paradox der Erinnerung leicht zur Verzweiflung führen. Diese kann aus der Erkenntnis erwachsen, dass Menschen anderen Menschen unvorstellbare Dinge angetan haben, also jederzeit auch erneut antun können. Darunter sind Dinge, die noch grausamer und sinnloser sind als der Schrecken der nichtmenschlichen Natur.

Aus dieser Verzweiflung kann sodann auch der gegenteilige Reflex entstehen: Dann flieht man sich angesichts der menschlichen Schrecklichkeit – τὸ δεινόν, wie es bei Aischylos und anderen Griechen heißt – in Zweckoptimismus. Man glaubt dann allzu leicht, dass der Ausruf „Nie wieder!“ nicht nur ein moralischer Imperativ, sondern bereits eine Vorhersage sei. Aus der Erinnerung an Furchtbares ergibt sich aber auch eine Chance.

Sie besteht darin, dass wir angesichts des vergangenen Leids, das entsprechend der obigen Definition von Gedenken in unserer Gegenwart fortwirkt, nach dessen Ursachen fragen können. Diese Chance bietet sich natürlich nur dann, wenn wir bereit sind, das Geschehene im Sinne von Tacitus zu akzeptieren und aus ihm zu lernen, ohne es zu beschönigen, ohne die Wahrnehmung der historischen Tatsachen unseren persönlichen, ideologischen oder sonstigen Vorlieben, Interessen und Abneigungen zu unterwerfen.

Diese Voraussetzungen sind beim Gedenken an den Massenmord von Chodschali augenscheinlich noch nicht erfüllt. Auf der einen Seite ist das Massaker auf der internationalen Bühne zum Teil anerkannt worden. 17 Staaten und 24 US-Bundesstaaten,
Tendenz steigend, haben ihn offen verurteilt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ordnete den Massenmord von Chodschali als „Handlungen von besonderer Schwere, die auf Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen“, ein.

Trotz dieser und anderer Anerkenntnisse wird die Realität des Verbrechens immer noch von einigen geleugnet. Dabei sind die Namen der 613 aserbaidschanischen Zivilisten, die am 25. und 26. Februar 1992 von armenischen Einheiten im Verband mit dem russländischen – vormals sowjetischen – Infanterie-Garde-Regiment Nr. 366 in der Karabacher Stadt Chodschali ermordet wurden, bekannt, ebenso wie unzählige Details über den Ablauf des Massenmordes, einschließlich dessen photographischer Dokumentation.

Über jene 613 Opfer weiß man ebenso Bescheid wie über die weiteren aserbaidschanischen Zivilisten, die während des Kriegsverbrechens verwundet, vertrieben oder zu Geiseln gemacht wurden, wobei viele der Geiseln nie mehr zurückkehrten. All diese Opfer zu verschweigen ist gleichbedeutend damit, ihren Tod und ihr Leiden nachträglich gutzuheißen. Das Kriegsglück hat sich inzwischen gewendet. Die Besatzer Karabachs, auf deren Konto das fürchterliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit von Chodschali gegangen ist, haben im Jahr 2020 eine schwere militärische Niederlage erlitten.

Aserbaidschan konnte einen großen Teil seines Territoriums zurückgewinnen, so, wie dies in den bekannten UN-Resolutionen des Jahres 1993 gefordert worden war. Doch die Wurzeln des Konflikts sind immer noch vorhanden, tief in der Erde, bereit und fähig, jederzeit wieder neue Provokationen, Anschläge, Attacken, Zusammenstöße und sogar Kriege hervorzubringen. Ein wirklicher Frieden müsste mehr als nur das Ende eines Konflikts oder Krieges oder das Abschließen eines Waffenstillstands sein.

Er müsste die Wurzeln des Konflikts angehen. Wirklichen Frieden wird es nur geben, wenn einstmals das Vertrauen auf das Gemeinsame stärker sein wird als die Angst vor dem vermeintlich Trennenden. Ein im wahrsten Sinne des Wortes tragisches Element der jetzigen Situation liegt darin, dass zu wenige Menschen den Stimmen Glauben schenken, die sagen, dass Frieden zwischen Armeniern und Aserbaidschanern möglich ist.

Der vorzeitige Tod des großen armenischen Friedensaktivisten Georgi Vanyan, der als einer der ganz wenigen Armenier die Realität des Verbrechens von Chodschali anerkannt hatte, ist ein herber Rückschlag für die um Frieden und Aussöhnung zwischen Armeniern und Aserbaidschanern Bemühten gewesen. Wie unendlich weit scheint also der Weg zu sein, den Armenier und Aserbaidschaner noch gehen müssen, um zum Frieden zurückzufinden! Wer oder was soll sie wieder auf diesem Weg zusammenführen? Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage hilft uns erneut ein Blick in die Geschichte.

Denn diese hält für uns nicht nur Episoden des Schreckens und der unfassbaren Grausamkeit bereit, sondern auch hoffnungsvolle Ansätze. Am ehesten finden wir solche Ansätze vielleicht in den Worten Üzeyir Hacıbәyovs (1885-1948), des aus der Nähe von Schuscha stammenden und dort lange Zeit wirkenden genialen aserbaidschanischen Komponisten und Schöpfers der ersten Oper der islamischen Welt, des bahnbrechenden Musikwissenschaftlers, der die klassische aserbaidschanische und westliche Musikwissenschaft miteinander vermählte.

Unter dem Schock der fürchterlichen Massaker, die 1905 und 1906 zwischen Armeniern und Aserbaidschanern stattfanden, richtete er folgenden Appell an alle Bewohner der Kaukasusregion:

„Es reicht jetzt! Lasst uns wieder zur Vernunft kommen! Lasst uns diesen so grauenvollen Anblick unseres Vaterlandes, welches schon seit Tausenden von Jahren in Strömen von Tränen und Blut versunken ist, beseitigen und uns bemühen, unter den Strahlen der Sonne der Einigkeit neues Licht zu tanken!“

Hier sieht man, dass Hacıbәyov nicht nur jene Gewalt im Blick hatte, die seinem Appell unmittelbar vorausgegangen war, sondern die jahrtausendealte menschliche Geschichte des gegenseitigen Massakrierens und Ermordens, Hassens und Bekämpfens überhaupt. Dass das Haus-Museum des Humanisten und Musikgenies Hacıbәyovs zusammen mit zahlreichen anderen kulturellen Artefakten, Monumenten und Stätten Schuschas von den Okkupanten der Stadt in der Zeit zwischen 1992 und 2020 ganz bewusst vandalisiert worden ist, sagt im Übrigen viel über die Mentalität der Besatzer.

Aus heutiger Sicht kann Hacıbәyovs Appell an die Menschlichkeit leicht naiv wirken, insbesondere, wenn man auf das gute Jahrhundert des Hasses und Blutvergießens zurückblickt, das Armenier und Aserbaidschaner in ihrer gemeinsamen Geschichte seither erlebt haben, oder wenn man sich den Großteil der beiderseitigen Rhetorik von heute ansieht.

Aber vielleicht wäre genau diese Naivität einer der Wege, um sich erneut einer friedlicheren Situation anzunähern. Stattdessen glauben viel zu viele, dass es gute Gründe geben könnte, den Konflikt erneut anzufachen. Wirtschaftliche, politische, geopolitische, historische, kulturelle, religiöse Gründe, alle möglichen Arten von Gründen werden dabei ins Feld geführt.

Vor der Katastrophe von 1905 und 1906, die vielleicht als eine Art Urknall des armenischaserbaidschanischen Konflikts beschrieben werden kann, war Karabach mit seinem Zentrum Schuscha und seinen kleineren Orten wie Chodschali ein Ort kultureller Begegnung, friedlichen Miteinanders und gegenseitiger Bereicherung gewesen, auch zwischen Armeniern und Aserbaidschanern. Aserbaidschanische Autoren wie Firidun bәy Köçәrli (1863-1920) und Mәmmәd Sәid Ordubadi (1872-1950) bezeugen dies in ihren Werken.

Bereits durch die Gründung des muslimisch-aserbaidschanischen Khanats von Karabach (1747) war Karabach zu einem der Zentren der aserbaidschanischen Kultur aufgestiegen. Der Beitrag, den Karabach und seine Metropole Schuscha auf literarischem, musikalischem und sonstigem künstlerischem Gebiet zur Kultur Aserbaidschans geleistet haben, kann sich in einer diachronischen Perspektive ohne Weiteres mit demjenigen von Täbris, Baku, Gändschä oder Schamachi messen.

Insbesondere in der Zeit von der Gründung des Khanats Karabach bis zum Aufstieg Bakus zur neuen Kulturmetropole Nordaserbaidschans am Ende des 19. Jahrhundert prägten die Dichter, Schriftsteller, Musiker und Komponisten aus Schuscha und Karabach das aserbaidschanische Kulturleben nicht nur entscheidend mit. Vielmehr schufen sie auch einen wesentlichen Teil der Voraussetzungen für jene Wiedergeburt der aserbaidschanischen Kultur, die diese zu einer wahrhaften Brücke zwischen der türkischmuslimischen und der westlichen Welt machte. Die Früchte dieser Renaissance erntet Aserbaidschan noch heute.

Vor dem Hintergrund dieser kulturellen Blüte entwickelten sich auch die Beziehungen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern recht gedeihlich, zumindest bis zur durch Russland ins Spiel gebrachten Instrumentalisierung von Armeniern zum Ausbau und zur Festigung seiner Herrschaft. Im Karabach des 18. und 19. Jahrhunderts heirateten Armenier und Aserbaidschaner einander, sie feierten zusammen, sie dichteten und musizierten gemeinsam.

Das Beispiel der aus der Nähe von Schuscha stammenden aserbaidschanischen Dichterin Aşıq Pәri (ca. 1802-1842) und ihres armenischstämmigen Kollegen Mirzəcan bəy Mədədov veranschaulicht die Tiefe dieser früheren Interaktion und das Potential der wechselseitigen kulturellen Beziehungen. So lieferten sich beide spielerische Auseinandersetzungen in Gedichtform (deyişmә) in aserbaidschanischer Sprache.

Auch wenn sie dabei, der Natur des Genres entsprechend, versuchten, kein gutes Haar am jeweils anderen zu lassen und sogar vor dem rhetorischen Ausspielen von Geschlechterrolle, Herkunft und Religion nicht zurückschrecken, gab es zu dieser Zeit weder zwischen diesen beiden noch sonst irgendwo in Aserbaidschan jenen blinden und unversöhnlichen Hass, der sich vor allem ab 1905 explosionsartig ausbreitete.

Auf dem Weg eines beiderseitigen Dialogs mit der Bereitschaft, zuzuhören und gegebenenfalls auch eigene Positionen zu ändern, kann es möglich sein, diesen alten Geist der Toleranz wiederzubeleben und sich von einem Teil der angeblich unüberwindlichen Schranken und Hindernisse zu befreien, die gegenwärtig zwischen den Völkern stehen. Auf dem Weg zum Frieden zwischen Armeniern und Aserbaidschanern werden allerdings auf Ausschließlichkeit und Alleinvertretungsansprüche gegründete Konzeptionen von der eigenen und fremden Identität ein Problem darstellen.

Statt solche Essentialisierungen bezüglich der eigenen Geschichte, Kultur, Religion und anderer Dinge zur alleinigen Richtschnur des Denkens zu machen, wird es erforderlich sein, sie ein Stück weit zu relativieren. Dies hieße nichts anderes, als die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Denn kein einziges Volk und keine Nation haben eine Geschichte, die nicht mit der Vergangenheit anderer Völker und Nationen untrennbar verwoben wären.

Gerade die Idee einer eigenen nationalen Vergangenheit und starken kulturellen Tradition bestätigt dies: das Eigene kann es nur geben, wenn es auch das Fremde gibt. Es wäre zumindest einen Versuch wert, jene Tradition des respektvollen, vielleicht auch distanzierten, aber friedlichen Neben- und Miteinanders wiederzubeleben, für die gerade Aserbaidschans kulturelle Wiege Karabach eindrucksvolle Beispiele liefert.

Voraussetzung dafür wird aber eine Einigung auf die dauerhafte Anerkennung völkerrechtlich verbindlicher Grenzen und Zugehörigkeiten sein, ferner der Verzicht auf revisionistische Projekte, die meistens auf immer neuen historischen Konstrukten beruhen, sowie nicht zuletzt die Anerkennung der Faktizität des Massakers von Chodschali sowie anderer Verbrechen.

Im eher hoffnungsvoll gestimmten Teil der Publizistik über den armenischaserbaidschanischen Konflikt wird dieser bisweilen mit der deutsch-französischen sogenannten Erbfeindschaft verglichen, die es in den einhundertfünfzig Jahren vom Beginn des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gab. Es wird in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass es Franzosen und Deutschen nach einhundertfünfzig Jahren des Hasses möglich gewesen ist, ein neues Kapitel aufzuschlagen, politisch, intellektuell und vor allen Dingen menschlich.

Es stimmt: Das Beispiel Deutschlands und Frankreichs zeigt zumindest, dass die Gräben des Hasses auch zwischen Nationen zugeschüttet werden können, die lange Zeit verfeindet gewesen sind. Allerdings darf man nicht vergessen, welcher Anlass und welche Erfahrung der späten – sehr späten! – Erkenntnis vorausgingen, dass Friede, Verständnis, Kommunikation und Annäherung zwischen Deutschen, Franzosen und allen Europäern der einzige Weg zum Frieden, zu einer gemeinsamen erträglichen Zukunft aller Beteiligten sind.

Dies war die Erfahrung des von Deutschland in Europa entfesselten Zweiten Weltkriegs und der von Deutschen begangenen nie dagewesenen Menschheitsverbrechen, an die wir uns unter der Bezeichnung „Holocaust“ erinnern. Erst die Folgen des von Deutschland ausgehenden Weltkriegs, des jegliches Vorstellungsvermögen übersteigenden industrialisierten Massenmordes und der anderen deutschen Verbrechen führten zur Besinnung, es waren nicht die Menschlichkeit und die Ratio allein.

Es ist Armeniern und Aserbaidschanern zu wünschen, dass dasjenige Denken, diejenigen Einstellungen, Gefühle und Wünsche, die die Katastrophe von Chodschali herbeigeführt
haben, durch ihr Gegenteil ersetzt werden, und zwar bevor es zu weiteren menschlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Katastrophen kommen muss. Es ist zu hoffen,
dass beide Nationen auf dem Wege von Dialog und Verhandlungen zu einem friedlichen Modus vivendi finden und so ihre in vielen Fällen nicht nur erträgliche, sondern auch
befruchtende und schöne gemeinsame Geschichte vor der Zeit des Hasses wiederentdecken können.


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar


Michael Reinhard Heß ist promovierter und habilitierter Turkologe und seit 2005 Privatdozent an der FU Berlin. Thema der Habilitation waren Leben und Sprache des aserbaidschanischen Dichters İmadәddin Nәsimi (1370–1417). Zum Thema Karabach hat er die Bücher „Panzer im Paradies“ (Dr. Köster 2016) und „Karabakh from the 13th century to 1920“ (Gulandot, 2020) verfasst.


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