Ein Gastbeitrag von Nabi Yücel
Inzwischen genügt ein Blick in soziale Medien, um zu erkennen, wie verzweifelt Türken um etwas Spende für den täglichen Lebensunterhalt betteln und versuchen auf Accounts von Persönlichkeiten wie Can Dündar die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Auf der anderen Seite ist das neue Apple iPhone 13 kurz nach Erscheinen in der Türkei schon gar nicht mehr erhältlich. Wie kommt das?
In sozialen Medien braucht dieser Tage eine türkische Persönlichkeit der Opposition nur einen Einzeiler zu veröffentlichen, schon hängen mindestens zwei Kommentare darunter, in der offenbar verzweifelte Türken um Hilfe für den täglichen Lebensunterhalt betteln. Die Begründungen sind dabei vielfältig: Arbeitslosigkeit, geringer Lohn, teure Mieten, die Inflation, Schicksalsschlag…
Auf der anderen Seite ist der Konsumrausch ein Segen für den Handel und die Wirtschaft aber auch Fluch zugleich. Unternehmer und Konzerne finden nämlich keine Mitarbeiter, obwohl sie sich sogar mit hohen Offerten zu Lohn und anderen Vergünstigungen gegenseitig überbieten.
In der Landwirtschaft wurden vor Jahren händeringend Saisonarbeiter gesucht. Die Wanderarbeiter konnten den Bedarf gar nicht mehr decken. Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge füllen inzwischen die Lücke. Sehr zur Freude der Haselnuss- und Teeplantagen-Besitzer. Zwischen Haselnussbäumen und Teesträuchern streifen nun Georgier, Äthiopier oder Syrer hindurch, um die Ernte einzufahren, während die Arbeitslosigkeit zum Politikum erhoben wird.
Im Pflegedienst und in Krankenhäusern oder auch in Restaurants haben sich willige ArbeiterInnen aus Usbekistan, Aserbaidschan, Armenien oder Georgien verdient gemacht. Ihr Fleiß ist in aller Munde, wie eine Verwandte die in der Provinz Amasya in einem Pflegeheim arbeitet, zu berichten weiß. Diese Arbeiten will in der Türkei offenbar niemand mehr machen, weshalb aus dem Ausland Menschen diese Arbeiten übernehmen.
In der produktiven Wirtschaft wie Maschinenbau oder auch im zusammenhängenden Logistikbereich suchen Jung- wie Altunternehmer händeringend nach Mitarbeitern, werden aber aus unerfindlichen Gründen nicht fündig. Inzwischen überbietet man sich beim Lohnentgeld, feilscht um jeden Bewerber und dennoch finden die Unternehmer keinen langfristigen Mitarbeiter.
Ein Jungunternehmer, den ich persönlich kenne, hat sich in Antalya vor drei Jahren selbstständig gemacht. Er bietet Bio-Gemüse und Bio-Früchte an, die er teilweise selbst angepflanzt hat und erntet, teilweise aus dem Ausland importiert. Früchte wie Bananen, Kiwi oder Erdberen kann er inzwischen saisonunabhängig anbieten, weil er in Gewächhäuser investiert hat. Die Technik dazu hatte er sich aus Italien besorgt, nach dem er zwei Messen besucht hatte. Sein Unternehmen floriert, eigentlich! Aber wachsen kann er nicht, weil er das Arbeitspensum mit den Stammmitarbeitern nicht mehr durchhält.
So wie viele hatte er sich vor zwei Jahren erst bei der türkischen Arbeitsagentur angemeldet und den Bedarf an angelernten Arbeitskraft angezeigt. Bis heute hat sich kein einziger unqualifizierter oder qualifizierter Bewerber gemeldet. Gesucht werden gegenwärtig immer noch ein Mitarbeiter in der Verpackung, drei für die Ernte mithilfe von Erntemaschinen sowie zwei Kaufleute und ein Buchhalter. Dann begann der Kollege sich im Umfeld umzuhören, aber alle wiegelten ab. Nun hat er notgedrungen großformatige Anzeigen in Printmedien geschalten, aber glaubt irgend einer, da hätte jemand bei sozialer Absicherung, Lohn ab Netto 5.000 TL und einer günstigen Mietwohnung in der Nähe des Arbeitsplatzes angebissen? Nein! Jetzt hat er seine Eltern gebeten, ihm zumindest die Büroarbeiten abzunehmen. Die düsten mit dem Bus von Eskisehir nach Antalya, wo sie jetzt das dringlichste abarbeiten.
Sowie diesem Jungunternehmer in der Türkei geht es vielen anderen. Immer mehr Unternehmer beschweren sich mittlerweile öffentlich über den unhaltbaren Zustand, während bei Straßenumfragen junge Menschen vor die Kameras treten und über ihre Perspektivlosigkeit schwadronieren. In sozialen Medien bieten offensichtlich in Not geratene Menschen ihre selbstgenähten Pantöffelchen und Strickereien unter jenen Persönlichkeiten an, die die türkische Regierung 24 Stunden am Tag scharf dafür kritisieren, dass das Land für junge Menschen keine Zukunftsperspektive biete. Vor allem das sticht förmlich ins Auge.
Währenddessen lese ich Statements von türkischen Unternehmen, die verzweifelt nach Mitarbeitern ausschau halten. Mitunter schildern sie dabei den Werdegang ihrer Bemühungen. So kam sich das Beratungsunternehmen ATAK geradezu verarscht vor, als sie diese jungen Menschen in den kurzen Videomitschnitten reden hörten, die angeblich Jobs suchen, aber keine finden würden. Laut dem Geschäftsführer von ATAK, Saadettin Çay, habe das Unternehmen wie in einem anderen Fall auch etwa 7.000 TL ausgegeben, um über eine Karriereseite im Internet Mitarbeiter anzusprechen. Sieben Interessierte hätten sich laut dem Mitbewerber schriftlich beworben, aber auf Einladung hin sei kein einziger erschienen. Çay zufolge wäre dass die bittere Wahrheit.
Um die Chancen zu erhöhen, habe ATAK wie die Konkurrenz ebenfalls einen professionellen Jobvermittler engagiert. Der hätte daraufhin 42 mögliche Kandidaten genannt, die man angeschrieben und um eine Bewerbungsmappe gebeten hätte. Lediglich 5 hätten daraufhin eine Mappe zugesendet. Alle hätte man zu einem persönlichen Gespräch eingeladen, aber nur ein einziger wäre zum Termin erschienen. Diesem einen einzigen Bewerber hätte man dann jede gestellte Bedingung anstandslos erfüllt, nur um ihn am Arbeitsplatz zu halten. Dieser wäre aber nur einen einzigen Tag zur Arbeit gekommen. Am nächsten Tag habe sich dieser mit „ich glaube, ich will nicht arbeiten“ schon wieder von der Arbeit entfernt.
ATAK hat die Hoffnung, wie mein Kollege aus Antalya, bereits aufgegeben, vom türkischen amtlichen Jobcenter noch irgend einen Bewerber vorgestellt zu bekommen. Von der Illusion, ein Kandidat würde in Eigeninitiative eine Bewerbung schicken, davon hat man sich längst verabschiedet. Man ist quasi dazu übergegangen, den Gemeindevorsteher, den Parteivorsitzenden des Landkreises oder den der Provinz auf die Lage aufmerksam zu machen, damit die politischen Weichen gestellt und die jungen Menschen zu Lohn und Brot gebracht werden. Aber was soll die Politik tun? Die Menschen zwingen bei überdurchschnittlichem Lohn und Vergünstigungen zur Arbeit zu drängen?
Der türkische Mindestlohn ist nicht berauschend, aber Unternehmen bieten ja auch nicht den Mindestlohn an, sondern weitaus bessere Löhne bei voller sozialer Absicherung für gelernte Berufe, und dennoch finden sie kaum oder gar keine gelernten MitarbeiterInnen, obwohl die Universitäten jedes Jahr Tausende qualifizierte wie überqualifizierte Jobsuchende in den Arbeitsmarkt werfen. Wie viele andere Unternehmen ist nun auch ATAK ausserstande zu wachsen und das Geschäft so fortzuführen, wie das Klientel es möchte. Viele Unternehmen sehen sich gezwungen, ihre gefahrenen Schichten zu kürzen, die Produktion herunterzufahren oder ganz aufzugeben, weil die Arbeit brach liegt. Während also die Kundschaft mit Aufträgen drohen, wiegeln die Unternehmen dankend ab.
Wie Saadettin Çay in einem Statement zum Schluss feststellt, dass sei die bittere Wahrheit, so stellen auch andere Unternehmen leidig fest, dass trotz der angeblich hohen Arbeitslosigkeit, sich kein Mitarbeiter finden lässt. „Açız aç!“, synomym für „Wir sind hungrig!“ gewinnt daher eine neue Bedeutung. Unternehmen sind hungrig nach Mitarbeitern, während ihnen mit Aufträgen gedroht wird.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.
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