Biden und Erdogan – ein neuer Kurs ist gefragtEin Gastbeitrag von Nabi Yücel
US-Präsident Joe Biden will die NATO wieder als Bollwerk westlicher Demokratien gegen Russland und vor allem China in alter Stärke zeigen. War unter US-Präsident Trump die ungleiche Lastenteilung im Bündnis an der Tagesordnung, so bleibt als weiteres Sorgenkind die Türkei. Biden will am Rande des Gipfels Präsident Recep Tayyip Erdogan treffen – den er im Wahlkampf einen „Autokraten“ nannte und der Opposition zusicherte, sie umfänglich zu unterstützen. Wird Biden beim Treffen am Montag, Erdogan Zugeständnisse machen oder die Türe zuschlagen?
Wenn es nach Susanne Güsten vom Tagesspiegel geht, suche Erdogan einen positiven Lichtblick, der nicht nur innenpolitisch gut zu vermarkten wäre, sondern auch internationale Investoren zufriedenstellen würde. Sowohl Erdogan als auch Biden können sich gegenseitig mit einer ellenlangen Beschwerdeliste bewerfen, aber die wirklichen Herausforderungen für das Bündnis und die Partnerschaft zwischen den zwei Ländern sind eher struktureller Natur. Die Türkei und die direkte Nachbarschaft haben sich in einer Weise verändert, die die amerikanisch-türkischen Beziehungen sowohl wichtiger als auch komplexer macht. Washington steht aber vor der großen Herausforderung, eine Politik zu entwickeln, wie man mit Ankara umzugehen hat und eine neue Partnerschaft am besten funktionieren kann.
Die Türkei ist einer der wichtigsten Verbündeten der USA in der Region. Die Türkei hat sich aber geändert, die Region hat sich geändert. Das stellt die USA deshalb vor mehr Herausforderungen als jedes andere NATO-Mitglied selbst. Die säkulare, verwestlichte, damals entschieden antisowjetische Türkei der Jahre des Kalten Krieges wird jetzt von einer konservativ-islamischen Prägung angeführt.
Die gegenwärtige Türkei interveniert energisch in Libyen, Syrien und sogar in Bergkarabach, was von vielen demokratischen und europäischen Staaten als Werteabweichung betrachtet und auch so kommuniziert wird. Die Türkei kauft auch Waffen von Russland, trotz Androhung und anhaltender US-Sanktionen. Während US-Präsident Biden sich heute auf ein bilaterales Treffen mit Herrn Erdogan vorbereitet, muss er eine neue Politik über diese wichtige Beziehung entwickeln, um die Türkei nicht vollends zu verlieren.
Auch Erdogan ist mit dem Ist-Zustand nicht glücklich. Das hat das türkische Außenministerium stets zum Ausdruck gebracht. Es sind nicht nur die US-Sanktionen, die gegen den Kauf des russischen Flugabwehrsystems S-400 ausgesprochen wurden und seither anhalten. Die Entscheidung Bidens, die Geschehnisse von 1915 auf die osmanischen Armenier, als Völkermord zu bezeichnen, hat die Türkei zutiefst getroffen. Die Türkei zeigt sich seit Jahren auch verärgert darüber, dass die US-Unterstützung der syrisch-kurdischen SDF weiterhin anhält, während eine halb-unabhängige sogenannte kurdische Zone im Nordosten und Norden Syriens entsteht. Ankara betrachten die SDF als Ableger der Terrororganisation PKK, was auch nicht einmal mehr das Pentagon bestreitet. Schwerwiegender ist der Umstand, dass die Türkei weiterhin daran glaubt, dass die USA in irgend einer Art beim gescheiterten Putschversuch eine Rolle gespielt haben könnte.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Region um die Türkei herum sich seit dem Kalten Krieg radikal verändert hat. Russland ist, trotz Wladimir Putins Bemühungen, eine viel schwächere Macht als die alte Sowjetunion. Während Ankara sich immer noch über Moskaus Ambitionen nachdenklich und reserviert zeigt, hat deren Machtverlust zur Folge, dass die Türkei weniger Druck vom alten Feind im Norden spürt – und weniger Ambitionen zeigt, sich eng an Washington oder Europa zu halten. Sie spielt vielmehr mit den ungleichen Mächten je nach geopolitischer Lage.
Das einzige Land, das nach dem Ersten Weltkrieg als Nachbar der Türkei aus sich selbst heraus gewachsen ist, taumelt seither und unter den anhaltenden Wirtschaftssanktionen: Der Iran. Die Welt um die Türkei und den einstigen Gebieten des Osmanischen Reichs befindet sich seit dem Ende des Ersten wie Zweiten Weltkriegs im freien Fall und will auch gegenwärtig kein Ende nehmen. Libyen, der Irak und Syrien sind schwach und vom Bürgerkrieg zerrissen. Ägypten sieht sich zwar als Regionalmacht, doch die angespannte innenpolitische Lage nach dem postmodernen Putsch beschäftigt das Land mehr als außenpolitische Themen.
Seit dem ehemaligen US-Präsidenten Trump reduziert Washington auch zunehmend seine Präsenz im Nahen Osten. Europa hat sein Interesse am Hindukusch ebenfalls zurückgefahren, ist im syrischen Bürgerkrieg gespalten wie noch nie. Zudem übt Erdogan Druck auf die EU, die sich im syrischen Bürgerkrieg alles andere als effektiv gezeigt hat. Ankara hat überaus gut verstanden, dieses von der wirkschwachen EU zurückgelassene Vakuum in der Region selbst zu füllen, zumindest so gut es geht.
Seither hat Ankara auch seine Beziehungen zu Brüssel neu austariert. Die EU schlug aufgrund dieser Neuausrichtung der Türkei die Tür zur EU-Mitgliedschaft zu. Ein weiteres Eingeständnis Europas, dass man es mit der Türkei nie so richtig ernst gemeint hatte – was die Türkei in der Annahme bestärkt, Brüssel bleibe dauerhaft voreingenommen, vor allem angesichts der griechischen und zypriotischen Mitgliedschaft in der EU.
Die EU hat aber bislang keinen effektiven Plan, die Türkei zur Räson zu bringen. Es scheint vielmehr, dass die Türkei die EU viel effektiver unter Druck setzt, vor allem mit der Flüchtlingsfrage. Das führt zu innerpolitischen Zerwürfnissen zwischen den EU-Ländern selbst wie auch in den jeweiligen Parlamenten und Gesellschaften der EU-Länder.
Das Einzige was die USA, die Europäer und die Türkei gemeinsam haben ist, dass sie gerne Ruhe und Ordnung in den Konfliktherden wie auch in heimischen Gefilden sehen würden. Drei Jahrzehnte voller Konflikte haben inzwischen nicht nur die Türkei, sondern auch die Europäer und die USA erreicht und beschäftigen die Innenpolitik. Alle wollen zudem den Einfluss Chinas zurückdrängen. Die USA und die Türkei würden auch die Stärke des Iran eingedämmt wissen, Russlands Macht im Nahen Osten, im Schwarzen Meer und dem Kaukasus begrenzt sehen.
Ohne die Türkei kann die USA ihre angestrebten Ziele kaum bewältigen. In den weiten Zentralasiens würden Washington und Ankara zudem Länder wie Usbekistan, Kasachstan oder Kirgisistan vor der russischen wie chinesischen Einflusssphäre bewahren. Ohne Ankara hat aber Washington in der Region keine Chance. Biden muss Erdogan warm halten, während seiner Amtszeit Zugeständnisse machen, will er sich geopolitisch profilieren. Biden kann jedenfalls nicht erwarten, dass die Türkei wie manch ein europäisches Land pariert bzw. sich immer noch im Kalten Krieg wähnt. Andernfalls werden das für Biden vier lange frustrierende Amtsjahre.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.
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