Start Panorama Gesellschaft Corona-Krise Experte Böhm: Vielen Kindern geht es ohne Kita-Stress besser

Corona-Krise
Experte Böhm: Vielen Kindern geht es ohne Kita-Stress besser

Leitender Arzt des Sozialpädiatrischen Zentrums in Bielefeld sieht positive Entwicklungen durch Betreuung daheim in der Corona-Pandemie.

(Symbolfoto: pixa)
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Osnabrück – Viele Kinder und ihre Eltern haben nach Einschätzung des renommierten Kinderarztes Rainer Böhm entgegen weitläufiger Befürchtungen mit der coronabedingten Betreuung zu Hause gute Erfahrungen gemacht.

In einem Interview mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (NOZ) sagte der Leitende Arzt am Sozialpädiatrischen Zentrum Bielefeld-Bethel: „Die öffentliche Erwartung war ja, dass sich durch die Corona-Krise und den Wegfall von öffentlichen Betreuungsangeboten eine deutliche Mehrbelastung bei Kindern und Familien einstellen würde. Tatsächlich konnte das in dieser Eindeutigkeit nicht nachgewiesen werden. Es gab sicherlich Familien, die deutlich mehr belastet waren. Es gab aber durchaus auch viele Familien, die positive Erfahrungen gemacht haben.“

Laut dem Experten habe die lange Phase der geschlossenen Kitas gezeigt, „dass viele Familien mittlerweile in einem System der umfassenden Inanspruchnahme, der Durchtaktung und Beschleunigung gefangen sind. Dieses permanente Gefühl des ,Auf-Kante-genäht-Seins‘ ist eine erhebliche Belastung für Kinder und Eltern. Die neue Freiheit, die plötzlich da war, hat sich vielfach positiv ausgewirkt“, hat Böhm beobachtet. Er sieht sich in Studienergebnissen bestätigt, wonach „die Settings, die wir unseren Kindern in öffentlichen Einrichtungen anbieten, dem Wohlbefinden der Kinder nicht immer dienlich sind“.

Der Aufenthalt in der Kita bedeute gerade für unter Dreijährige „einen enormen Stress, mit häufig negativen Folgen für ihr soziales Verhalten und ihre gesamte Entwicklung“. Man habe außerdem lange unterschätzt, „wie wichtig eine selbstbestimmte Gestaltung des Alltags auch für Kinder ist. Wir haben in den öffentlichen Einrichtungen meist ein sehr strukturiertes Angebot. Kinder können sich da nicht ohne Weiteres herausziehen, um individuell zu spielen oder sich in etwas zu vertiefen, ohne Anforderungen von außen.“ Dies sei in der Corona-Zeit, in der viele Kinder keine Betreuungseinrichtungen besuchen konnten, anders gewesen.

Kitas könnten aus den Erfahrungen der Corona-Zeit wichtige Rückschlüsse für ihr pädagogisches Angebot ziehen. „Man könnte durchaus strukturell etwas verändern. Man könnte den Kindern mehr Zeit für selbstbestimmtes Spielen geben. Man könnte auch mehr Beschäftigungen außerhalb der Räumlichkeiten der Kita anbieten. Draußen spielen zu können ist für Kinder ganz wichtig“, sagte Böhm. Noch wichtiger sei aber eine gesunde Balance zwischen Zeit mit der Familie und Zeit in der Einrichtung. Hier habe sich in den vergangenen Jahren vieles in eine ungünstige Richtung entwickelt. „Der kindliche Alltag wird sehr stark aus den Familien herausverlagert. Immer größere Teile des Tages verbringen Kinder im Gruppen-Setting der Kita“, so der Experte weiter.