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26.2.1992: Im Gedenken an die Opfer des Völkermordes von Hodschali

Die ersten Nachrichten über die eingekesselten muslimischen Zivilisten ließen das Blut gefrieren. Sie deckten sich mit den Schilderungen der türkischen Flüchtlinge aus dem sogenannten Lacin-Korridor, einem weiter westlich gelegenen Landstrich zwischen der umkämpften Enklave Karabach und der Staatsgrenze der Republik Armenien.

(Foto: justiceforkhojaly.org)
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Ein Gastbeitrag von Damian Etsch-Zynn – detschzynn@gmail.com

Als Rizvan R. und sein Schwager Nariman H. nur noch wenige Kilometer zu Ihrem Heimatort vor sich hatten, war es noch recht düster. „Es ist bald geschafft Rizvan, gleich sind wir da und halten unsere Liebsten in den Armen.“ Nebelschwaden strömten aus seinem Mund und seiner Nase als ihm sein Begleiter mit der Floskel „Inschallah Bruder! Inschallah.“ antwortete.

Es war Februar und bitterkalt im Hochland von Karabach. Beide hatten sich fest vorgenommen nicht laut zu sein und im Schutze der Finsternis unbemerkt und so schnell wie nur möglich Ihre Angehörigen vor der vorrückenden Front in Sicherheit zu bringen. Die sogenannten armenischen Selbstverteidigungsverbände „Artsakhs“ (armen. für Karabach) hatten nämlich am 11. Februar 1992, unter massiver militärischer Unterstützung der russischen und armenischen Streitkräfte, eine groß angelegte Offensive gegen die mehrheitlich von aserbaidschanischen Türken bewohnte Stadt Schuscha begonnen.

Die ersten Nachrichten über die eingekesselten muslimischen Zivilisten ließen das Blut gefrieren. Sie deckten sich mit den Schilderungen der türkischen Flüchtlinge aus dem sogenannten Lacin-Korridor, einem weiter westlich gelegenen Landstrich zwischen der umkämpften Enklave Karabach und der Staatsgrenze der Republik Armenien.

Die armenischen Streitkräfte hatten zusammen mit den armenischen Milizen „Artsakhs“ die noch junge Republik Aserbaidschan überfallen, große Geländegewinne verbucht und die aserbaidschanischen Linien überrollt. Wer fliehen konnte, begab sich in das Landesinnere gen Osten, wer eingekesselt wurde und festsaß, musste mit einem schrecklichen Schicksal rechnen.

Für Rizvan R. und Nariman H., die sich im Osten Aserbaidschans als Industriearbeiter verdingten, gab es angesichts des drohenden Unheils nur eines: Sie mussten sich umgehend in das gebirgige Karabach begeben, um ihre Familien vor den vorrückenden armenischen Einheiten zu retten. Am Morgen des 26. Februar 1992 trafen beide Männer auf einen Trupp aserbaidschanischer Soldaten und schlossen sich ihnen an.

Wenige Stunden später, als der Himmel schon erhellt war, wurden sie die ersten Zeugen einer der brutalsten und abscheulichsten Gräueltaten des ausgehenden 20. Jahrhunderts: Hunderte Leichen von Zivilisten lagen verstreut links und rechts des Weges. Die leblosen Gesichter der Menschen und die erstarrten Körper der Opfer erzählten die Geschichte einer panischen Flucht: Sie waren offensichtlich überrascht worden und hatten kaum Gelegenheit ausreichend Vorkehrungen für ihren beschwerlichen Weg in die Sicherheit Richtung Osten, hinter die aserbaidschanischen Linien zu treffen.

Manche hatten sich mit Hausschuhen auf den Weg gemacht, andere nur leicht bekleidet mit einer Strickjacke. Nahezu alle Opfer wiesen Spuren von Verstümmelungen auf: Frauen mit abgeschnittenen Brüsten lagen hier und da zwischen Büschen und Sträuchern, ausgestochene Augen, abgeschnittene Ohren an fast jedem Torso; nahezu bei jedem männlichen Opfer mit runter gezogener Hose wurden Genitalverstümmelungen festgestellt.

Besonders bitter waren die malträtieren Kinderleichen die neben ihren Müttern oder Großeltern lagen. Wenige Monate alte Säuglinge lagen noch in den Armen ihrer Mütter, die selbst in dem letzten qualvollen Augenblick ihres irdischen Daseins fest ihre Kinder umschlungen hatten und mit ihnen in den Tod gingen.

„Wenn Menschen ihren letzten Atemzug nehmen, kurz bevor sie ins Jenseits schreiten, erstarrt ihr Blick. Der Blick dieser misshandelten Menschen vor ihrem letzten Wimpernschlag verriet, dass sie schreckliche Folter und Malträtierungen über sich ergehen lassen mussten.“ erinnerte sich ein aserbaidschanischer Offizier über zwei Jahrzehnte nach dem Vorfall.

Er und sein Trupp zählten am Morgen des 26. Februar 1992 613 Tote, davon 106 Frauen und 83 Kinder. Bei den männlichen Opfern handelte es sich zumeist um Greise, die aufgrund ihres Alters nicht mehr für den Dienst an der Front verpflichtet werden konnten. Rizvan R. und Nariman H. halfen bei der Identifizierung der Opfer die allesamt aus Ihrem Heimatort, der Ortschaft Hodschali, stammten. Sie konnten nur noch die Leichname ihrer Liebsten überführen.

Sechs Familien wurden vollständig ausgelöscht, 487 Personen erlitten schwerste körperliche Verletzungen mit dauerhafter Behinderung. Durch den Völkermord in Hodschali wurden 25 Kinder zu Waisen und 130 zu Halbwaisen. Die armenischen Schergen vergingen sich in ihrem Blutrausch selbst am ungeborenen Leben: Aufgeschlitzte Leiber hochschwangerer Frauen und herausgerissene Föten zeugten von einem endlosen Hass und hoher krimineller Energie.

Bis heute wurden die Täter des Hodschali Massakers nicht zur Rechenschaft gezogen. Die Republik Armenien, die bis heute 20 Prozent des Territoriums von Aserbaidschan besetzt hält, leugnet den Genozid an hunderten Zivilisten und tut den Vorfall lapidar als „aserbaidschanische Propaganda“ ab. Die armenische Version ist geradezu abstrus: Die aserbaidschanische Armee habe den Fluchtweg der eigenen flüchtenden Zivilbevölkerung abgeschnitten und sie dem Trommelfeuer der armenischen Einheiten ausgesetzt, um in ihrer Verzweiflung eine internationale Ächtung Armeniens zu provozieren.

In Folge des Bombardements sei es dann zu diesen „Kollateralschäden“ gekommen. Die Frage warum die armenischen Kampfverbände Kanonensalven auf eingekesselte aserbaidschanische Flüchtlinge mutwillig abgefeuert haben und wie die zielsicher einschlagenden Projektile Malträtierungen bei den Opfern verursacht haben sollen, lässt die armenische Regierung in peinliches Schweigen verfallen. Armeniens Staatshäupter drehen und wenden sich, meiden Statements zu diesem dunklen Kapitel ihrer Geschichte.

Es ist das typische Verhalten eines ertappten und in die Enge getriebenen Täters, der verzweifelt seine Mordtat zu vertuschen versucht, indem er die Gegenseite beschuldigt und sich in krude Verschwörungstheorien flüchtet. Selbst vor einem Body Count (pfui!) wird nicht zurückgeschreckt, in der Hoffnung so das Ausmaß der Schandtaten wenigstens quantitativ abzumildern. Auch wenn der nationalistische Ex-Staatschef Armeniens, Serj Sarkissian, besserwisserisch die Opferzahlen von Hodschali als „sehr, sehr übertrieben“ einstufte und führende armenische Politiker das Hodschali-Massaker als „aserbaidschanisches Ammenmärchen“ abtun wollen, ist es vor allem den Augenzeugen, wie der russischen Fotografin Victoria Ivleva oder dem Kameramann Cengiz Mustafayev zu verdanken, die sich unter Lebensgefahr in den Tatort begaben, um die Geschehnisse in Bild und Ton zu verewigen.

Ihrem Einsatz geschuldet, gilt Hodschali heute nicht umsonst als der am besten dokumentierte Völkermord der Geschichte. Der amerikanische Politologe und Journalist Thomas Goltz ließ sich tags darauf mit einem aserbaidschanischen Helikopter einfliegen und veröffentlichte den ersten Artikel in der Washington Post über diesen Massenmord an Zivilisten. Interessant ist, dass die armenische Seite bei der Leugnung des Völkermordes in Hodschali in dieselbe nihilistische Haltung verfällt, die sie der Türkei unterstellt, wenn es um die Genozid-Vorwürfe im Zusammenhang mit den Deportationen von 1915 geht.

Die andauernde illegale Besetzung Karabachs durch Armenien und die Inschutznahme der Kriegsverbrecher aus dieser Zeit durch Jerewan führt dazu, dass bislang niemand für dieses unvorstellbare Verbrechen an der Menschlichkeit büßen musste. Ganz im Gegenteil: Diensthabende Kommandeure und Milizenführer aus dieser Zeit, die ganz offensichtlich die Vernichtung der Ortschaft Hodschali befehligten, werden heute in Armenien als Helden gehuldigt. Sie stehen in Amt und Würden, besetzen Posten in Polizei und Militär.

Bestes Beispiel ist der Milizenführer Monte Melkonian, der eine breite Blutspur in Karabach hinter sich herzog. Der für seine Unerbittlichkeit bekannte Milizionär mit der auffallend schrillen Stimme, ist Namenspatron für Schulen, Plätze und Stiftungen. Er gilt als Ikone und muss als leuchtendes Vorbild für die stramm nationalistische Erziehung in den Schulen der sog. Republik Artsakh herhalten, eine Entität, die diplomatisch, wenig überraschend, nur von Armenien anerkannt wird.

Man könnte sich auch der armenischen Leugnungsrhetorik anschließen und den Vorfall von Hodschali als billige Propaganda der Aserbaidschaner etikettieren zu der sich das ganze Volk konspirativ verschworen hat, um den makellosen Ruf der Armenier in Verruf zu bringen. Wären da nur nicht die erdrückenden Beweise und Erzählungen über ähnliche Gräuel in anderen Ortschaften Berg-Karabachs. Ja, Hodschali war nicht die erste und einzige Siedlung, deren Bevölkerung restlos ausradiert werden sollte. Ein ähnliches Schicksal ereilte zum Beispiel das Dorf Gary Gischlag, deren Bewohner von den vorrückenden armenischen Einheiten umzingelt und mit Maschinengewehren Opfer einer Massenexekution wurden.

Manche konnten ihrem Schicksal entfliehen, so auch der ortsansässige Bauer Suleiman Abdulajew, der in der Nähe seines Heimatdorfes Zeuge eines kaum vorstellbaren Verbrechens wurde. Aus einem Gestrüpp beobachtete der Mann, wie armenische Armeeangehörige ein mit Frauen und Kindern vollbeladenen Bus umzingelten und ansteckten bis es völlig ausbrannte. Versuche aus dem lodernden Fahrzeug zu entkommen waren vergebens, denn die armenischen Soldaten schossen ohne zu zögern auf jeden, der es wagte aus dem Bus zu steigen.

Er werde die Schreie der Kinder im Bus nie im Leben vergessen, so Abdulajew rückblickend (nachzulesen in Erich Wiedemann „Smartes Stück Kolonialismus“ in der Spiegel Ausgabe vom 18.10.1993). Dazu kommen tausende Flüchtlinge aus hunderten Siedlungen, die über ähnliche Szenarien zu berichten wussten. Dabei schien die armenische Vernichtungsmaschinerie einer gewissen perfiden Systematik zu folgen: Ortschaften wurden eingekesselt, den Bewohnern wurde die Option der Räumung angeboten und ein angeblicher Fluchtkorridor geschaffen.

Dieser erwies sich aber als Falle, weil alle Zivilisten im Glauben an die sichere Flucht in einem schmalen Pfad aufgegriffen und buchstäblich abgeschlachtet wurden. Mancherorts wurden die hermetisch abgeriegelten Orte ohne Vorwarnung mit schwerer Artillerie beschossen, wohl wissend, dass Zivilisten Schutz suchend in ihren Häusern ausharrten. Wer sich mit Mühe und Not hinter die aserbaidschanischen Linien retten konnte berichtete über die Vorfälle und über das Grauen, dessen Zeugen sie wurden.

In der Ortschaft Hodschali haben armenische Einheiten in der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 1992 über 613 Zivilisten (Frauen, Kinder und Alte) mit einer unglaublichen Brutalität auf bestialische Weise ermordet und die Ortschaft komplett zerstört.

Anfangs kursierten die Erzählungen über die Massaker aus den Frontgebieten in der aserbaidschanischen Gesellschaft als Erzählungen. Viele Aserbaidschaner haderten mit der Vorstellung, dass Menschen, mit denen man einst Tür an Tür wohnte und sich als Kollegen in den Kolchosen begrüßte zu derart brutalen Übergriffen fähig sein würden. Genau diese Erfahrungsberichte waren es, die mutige und investigative Journalisten wie die Russin Victoria Ivleva oder Cengiz Mustafayev dazu bewogen den Erzählungen auf den Grund zu gehen.

Würden denn die Russen, zu denen man lange Zeit als großen Bruder aufblickte und koexistierte, überhaupt derartige Verbrechen zulassen? Aber ab dem Vorfall in Hodschali hatte das aserbaidschanische Volk und die Weltöffentlichkeit den unbestreitbaren Beweis, dass die hundertfach von entkommenen Aserbaidschanern geschilderten Massaker die bittere Wahrheit darstellten. In der zerklüfteten Bergregion Karabachs wähnten sich armenische Schergen in Sicherheit, als sie an unschuldigen Zivilisten ihre Gewaltphantasien auslebten.

In der Anonymität der dicht bewaldeten Täler und Schluchten spielten sich dramatische Szenen ab, die an Abscheulichkeit nicht zu überbieten waren und Augenzeugen jeglichen Glauben an das Gute im Menschen auslöschten. Aber am 26. Februar 1992 wurden die armenischen Täter in Hodschali auf frischer Tat ertappt, ihr tausendfach begangenes Verbrechen in den unzugänglichsten Regionen wurde eindeutig bewiesen.

Insofern kommt Hodschali auch eine andere, sehr weitreichende Bedeutung zu: Das Massaker von Hodschali ist nicht nur an sich ein Tag des Trauerns und der Andacht für die zivilen Opfer der Ortschaft. Hodschali steht zweifellos exemplarisch für hunderte ausradierte muslimische Ortschaften und für ihre Einwohner, die durch armenische Hand ermordet, verschleppt oder verstümmelt wurden.

Das Hodschali-Massaker ist die verbriefte Urkunde, quasi das Echtheitssiegel des großflächigen Genozids in Berg-Karabach, das durch armenische Nationalisten ausgeführt wurde. Das ist der Grund, warum weltweit zehntausende Aserbaidschaner auf Kundgebungen am heutigen Tage der über 50.000 Todesopfer ihres Volkes gedenken und ihre Solidarität mit den über 1.000.000 Vertriebenen Aserbaidschanern bekunden.

Es ist schon makaber, dass Armenien, das ja bekanntlich seine Bevölkerung als Opfer des ersten Massenmordes der letzten Dekade zu sehen glaubt, ausgerechnet selbst zum Vollstrecker des letzten Völkermordes des ausgehenden 20. Jahrhunderts mutierte.

In memoriam der Opfer des Karabach Krieges und Hodschalis.

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