Start Panorama Gesellschaft Religion und Toleranz Prof. Dr. Günther: „In Gott erfährt der Mensch eine...

Religion und Toleranz
Prof. Dr. Günther: „In Gott erfährt der Mensch eine ungeteilte Zuwendung“

"Religion und Toleranz scheint ein genauso altes wie aktuelles Thema zu sein. Das ist so, weil man sich daran gewöhnt, hat Toleranz und Religion in einem antagonistischen Verhältnis zu sehen. Religion scheint ein ungeheures Konfliktpotential zu bergen, das sich nur mühsam durch einen Appell zur Toleranz unter Kontrolle halten lässt".

(Symbolfoto: pixa)
Teilen

Von Prof. Dr. Hans-Christian Günther

Religion und Toleranz

Religion und Toleranz scheint ein genauso altes wie aktuelles Thema zu sein. Das ist so, weil man sich daran gewöhnt, hat Toleranz und Religion in einem antagonistischen Verhältnis zu sehen. Religion scheint ein ungeheures Konfliktpotential zu bergen, das sich nur mühsam durch einen Appell zur Toleranz unter Kontrolle halten lässt, d.h. eigentlich fordert man religiöse Menschen dazu auf, tolerant zu sein, obwohl sie religiös sind. Toleranz scheint etwas von außen an die Religion Herangetragenes zu sein; Toleranz gehört zu einer jenseits der Religion stehenden Ordnung, die garantieren muss, dass Leute verschiedener Überzeugungen friedlich zusammenleben.

Eine dieser Überzeugungen, und noch dazu eine besonders hartnäckige, ist eben die Religion, und die tut es sich mit der Toleranz schwer. Für Toleranz scheint eine religionsneutrale Ordnung, d.h. ein säkularer Staat, zuständig; Religion muss sich in diese Ordnung fügen. Für den Religiösen stellt sich die Frage, wie tolerant er sein kann, um religiös bleiben zu können, d.h. wie er die Forderungen seiner Religion mit denen der religionsneutralen Gesellschaft versöhnen kann.

Ganz so einfach ist es freilich nicht einmal in der aktuellen gesellschaftlichen Realität des hier umrissenen ›westlichen‹, säkularen Staatsmodells: das Verhältnis von Menschen verschiedener Überzeugungen untereinander und mit der staatlichen Ordnung ist mehrdimensional. Es gibt da Religiöse und Nicht-Religiöse, doch auch in immer relevanterem Umfang Verschieden-Religiöse, nicht nur Angehörige verschiedener Religionen oder verschiedener Ausprägungen einer Religion, es gibt auch verschieden stark von ihrer Religion Überzeugte bis zu an einer Religion als einer kulturellen oder nationalen Tradition Festhaltende; ja, in einer multiethnischen und sich im Zuge der sog. Globalisierung immer mehr dekulturalisierenden Gesellschaft spielt oft die Verquickung von Religion und kultureller Identität eine große Rolle. In diesem Kontext befinden sich der Nicht-Religiöse und der Religiöse in derselben Situation.

Der Nicht-Religiöse gesteht dem Religiösen zu, religiös zu sein, solange Letzterer das friedliche Zusammenleben nicht stört. Ebenso der Religiöse; er mag zunächst den Anders-Religiösen als einen minderwertig Religiösen ansehen, den er duldet, solange er seine religiösen Überzeugungen nicht stört; unter Umständen drängen ihn freilich seine Überzeugungen doch zur Vereinnahmung des anderen oder zwingen ihn im Falle des völlig Unreligiösen vielleicht gar dazu. Eben dieser vereinnahmenden Haltung entgeht jedoch auch der tolerante, nicht-religiöse ›Liberale‹ nicht, der die Werte des religionsneutralen Staates vertritt. Religion ist eine minderwertige Überzeugung, die zu tolerieren ist, solange sie nicht stört.

So stößt in einer Gesellschaft, wo der Wertekonsens so extrem brüchig ist wie heute, Toleranz immer mehr an ihre Grenze: Toleranz kann ganz offenkundig den anderen nie im vollen Sinne den anderen sein lassen. Auch Toleranz vereinnahmt den anderen, indem sie sich absolut setzt. Die hier beschriebene gesellschaftliche Realität scheint sehr partikulär; sie ist die der modernen ›westlichen‹ Zivilisation; freilich ist diese ›Zivilisation‹ seit Jahrhunderten global bestimmend, denn sie hat durch ihre (waffen)technische Überlegenheit die Welt dazu gezwungen, diese Weltsicht nolens volens zu adaptieren.

Und inzwischen hat die Software dieser ›Zivilisation‹ es noch unmöglicher gemacht, sich ›global‹ westlicher Denkungsart zu verschließen. D.h. die Beschreibung, die ich im Vorigen gegeben habe, trifft unsere heutige Situation ›global‹. Aber um damit umzugehen, muss man sich klar machen, dass das oben kurz umrissene Verhältnis von Religion und Toleranz auf bestimmten Konzepten von Religion und Toleranz beruht, die nicht selbstverständlich sind.

Konflikte, die mit etwas im Zusammenhang stehen, das wir Religion nennen, gibt und gab es natürlich auch außerhalb des im Vorigen abgesteckten Raumes; ebenso gibt und gab es überall Verhaltensweisen zwischen Konfliktparteien verschiedenster Art, die wir als Toleranz bezeichnen können. Doch inwieweit dabei ›Religion‹ bzw. ›Toleranz‹ einem Phänomen (oder einem Wort) aus einem anderen Kulturbereich entsprechen, bleibt offen und in jedem Falle zumindest unscharf. ›Religion‹ und ›Toleranz‹ sind Bezeichnungen der europäischen Kultur und ihrer Sprachen, aber schon innerhalb dieser Kultur bedürfen die Begriffe der Präzisierung: nur weil der Begriff ›Religion‹ bereits innerhalb der europäischen Kultur so unscharf ist, kann er überhaupt auf andere Kulturen übertragen werden.

Das ist gefährlich, und es scheint mir geboten, diese Begriffe zunächst in ihrem europäischen Umfeld zu klären. Wenn dies im vollen Bewusstsein der Beschränktheit dieser Vorgehensweise geschieht, leistet es mehr als eine oberflächliche Einbeziehung anderer Kulturen und Denkweisen. Ich will somit hier Religion und Toleranz nur im Bezug auf die Situation in der westlichen Gesellschaft präzisieren. Dies könnte ein erster Schritt sein, anderen Kulturen eine Chance zu geben, dort beheimatete vergleichbare Konzepte vor dem Hintergrund ihrer eigenen Denk- und Sprachstrukturen zu überdenken und gegebenenfalls zu dem, was Europa Toleranz und Religion nennt, in Bezug zu setzen.
Die eingangs skizzierte gesellschaftliche Realität hat klar gemacht: was Religion und Toleranz auch immer bedeuten, sie sind korrelierende Begriffe, und in der Tat findet Toleranz sozusagen im terminologischen Sinne seine schärfste Ausprägung in der europäischen Aufklärung zusammen mit der Entwicklung des Konzeptes einer säkularen, religionsneutralen Staatsform.

Wenden wir uns nun den Begriffen im Einzelnen zu und bestimmen wir zunächst genauer, wovon wir eigentlich sprechen, wenn wir das Wort ›Religion‹ benutzen! Religion ist bekanntlich ein lateinisches Lehnwort, das in seiner ursprünglichen Verwendung im antiken Latein in die Sphäre der paganen römischen ›Religiosität‹ gehört. Die Bedeutung, die ›Religion‹ ihm Vulgärverständnis des modernen Europäers hat, ist erst aus der Übertragung dieses Wortes in eine andere ›Religion‹ möglich geworden, die ein der paganen Religiosität fast diametral entgegengesetztes Gottesverständnis aufweist. Wie im Grunde genommen für alle werteprägenden Begriffe gibt es auch für das lateinische Wort religio bzw. für das moderne, ›europäische‹ Wort Religion in anderen Sprachen, Kulturen, ›Religionen‹ keine völlig adäquate Übersetzung eins zu eins.

Dass wir in europäischen Sprachen recht unterschiedliche Erscheinungen in anderen Kulturen mit dem Wort ›Religion‹ belegen können, liegt letztendlich daran, dass das Wort bereits in seiner Übertragung von der paganen Religiosität in die christliche einen derartige krassen Bedeutungswandel durchgemacht hat, dass es ein so sinnentleertes Wort geworden ist, dass man es tatsächlich auf so gut wie alles anwenden kann, was irgendwie mit etwas Transzendentem, Göttlichen, Heiligen zu tun hat.

Andererseits verbinden wir unwillkürlich mit dem Wort ›Religion‹ alltagssprachliche Konnotationen, die den Phänomenen, die wir dann als Religion bezeichnen, nicht gerecht werden. Wir sagen etwa: er macht aus etwas eine Religion, etwas ist für jemand eine Religion. Damit meinen wir: jemand ist von etwas völlig überzeugt, ohne dass es dafür vernünftige Gründe gibt. Wir sagen auch: er glaubt an seine Religion. Religion bedeutet: man glaubt fest an etwas, das man eigentlich nicht so sicher wissen kann. ›Glauben an‹ hat die Konnotation ›irrational‹.

Unser Verständnis von Religion, bzw. Glauben im religiösen Sinne setzt eine implizite Antinomie ›Religion‹ vs. ›Vernunft/ Verstand‹ voraus. Die Religion, die an etwas glaubt, impliziert dazu noch: feste Überzeugung, eine Art von Vertrauen auf etwas Unverbrüchliches, das Richtmaß der eigenen Lebenshaltung wird. Es ist unschwer zu erkennen, dass dieses Religionsverständnis demjenigen einer ganz bestimmten religiösen Tradition entspricht: der jüdisch-christlich-islamischen. Das Vertrauen, Sich-Verlassen-auf, unser deutsches ›glauben an‹ hat seinen semantischen Ursprung in einem griechischen Wort, welches das christliche Gottesverständnis in Absetzung vom paganen bezeichnete, pístis »Glaube«, eigentlich »Vetrauen«, bzw. pisteúo »vertrauen auf«, und der lateinischen Entsprechung: fides »Treue, Vertrauen, Zuverlässigkeit«.

Romanische Sprachen besitzen für unser deutsches ›Glauben‹ im christlichen Sinne auch einen schärferen Terminus in Ablegern von lat. fides (frz. ›foit‹, ital. ›fede‹), bzw. besitzt das Englische ein romanisches Lehnwort ›faith‹. Diese ganz spezifische Form des Religiösen setzen wir bei Religion stillschweigend voraus; wir verwenden ›Glaube‹ und ›Religion‹ praktisch synonym, Entsprechendes gilt für andere Sprachen. Das als pístis/fides bezeichnete Verhältnis zum Göttlichen ist freilich dem paganen antiken Religionsverständnis diametral entgegengesetzt, dem römischen zumal. Der Grieche benennt sein Verhältnis zu den Göttern am allgemeinsten mit nomízein, d.h. eigentlich »etwas benützen, wie es gewöhnlich ist, sozusagen wie eine Währung«.

Man geht mit den Göttern um, wie man es gewohnt ist zu tun. Es gibt Regeln: besonders in der römischen Religion ist das quasi juristische Verhältnis zu den Göttern besonders ausgeprägt. Man hält sich an ein vertraglich vereinbartes göttliches Recht, das ein friedliches Miteinander gewährleistet. An diesen Pakt ist man gebunden: das ist ›religio‹. Es ist ein Pakt zwischen zwei ungleichen Parteien. Das Göttliche, mit dem man so umgeht, ist das Übermächtige. Das Wesen dieser Macht ist das Unberechenbare, Unkontrollierbare. Der Umgang ist geprägt von Misstrauen. Heilige Handlungen sind zunächst Vorkehrungen gegen möglichen Schaden.

Die Haltung ist Vorsicht. Dieses Göttliche ist vor allem das Unbekannte. Mit ihm vorsichtig umzugehen, gebietet eine Skepsis, die besagt, Unterlassung könnte zu Schaden führen. Das Verhältnis des Religiösen zu Gott ist ein negatives. Dieses Göttliche hat keine andere Bestimmtheit als die des möglicherweise Bedrohlichen. Es ist das Gegenstück zu allem Vertrauten, Vertrauenswürdigen. Man könnte dieses Verhältnis zum Göttlichen als im Wesentlichen aporetisch und apotropäisch bezeichnen.

Das jüdisch-christlich-islamische Gottesverständnis steht dem diametral entgegen. Gott hat in seinem Verhältnis zum religiösen Menschen zunächst schon ganz unmittelbar eine Bestimmtheit: er ist derjenige, der Verlässlichkeit verspricht und Vertrauen einfordert, derjenige, auf den der Religiöse sein Leben ausrichten kann und muss. Er ist ein Gott, der sich dem Menschen nicht nur im Entzug, im Bedrohlichen offenbart, sondern von Anfang an auch derjenige, der sich dem Menschen oder einer bestimmten Gruppe, ›seinem Volk‹ zuwendet und ihm in seiner Offenbarung ein Unterpfand des Vertrauens schenkt: sein Wort, seine heilige Schrift, die das äußere Zeichen seiner Zuwendung ist und an welcher der Religiöse sein Leben ausrichten kann.

Das hier skizzierte Muster des Verhältnisses Mensch – Gott ist selbstverständlich nicht auf die jüdisch-christlich-islamische Tradition beschränkt. Umgang mit dem Übermächtigen versucht das Bedrohliche zu bändigen; so strebt es immer auch nach einem vertrauteren Verhältnis zu diesem Bedrohlichen: dieses vertrautere Verhältnis wird erstrebt im Versuch, Letzteres zu verstehen oder es – durch religiöse Handlungen – nicht nur zu besänftigen, sondern u.U. sogar seine Zuneigung zu gewinnen. Diesem Bedürfnis kommen in der paganen Antike besonders esoterische Religionsgemeinschaften entgegen: hier entwickelt sich das auf göttlicher Offenbarung beruhende Vertrauensverhältnis zwischen einer Gruppe und dem Göttlichen.

So hat auch das jüdisch-christlich-islamische Religionsverständnis seinen Ursprung in einer Religion, eben der jüdischen, die sich zunächst als diejenige einer besonderen Gruppe im Verhältnis zu ihrem sich ihr zuwendenden und offenbarenden Gott definiert.
Wie diametral verschieden dieses auf Vertrautheit und wechselseitigem Vertrauen beruhende Gottesverhältnis von demjenigen ist, das oben als in seiner Grundlage aporetisch/apotropäisch bezeichnet wurde, lässt sich am besten an einem prägnanten Textzeugnis der griechischen Antike festmachen, das präzise mit christlichen Vorstellungen vergleichbar ist, die so geläufig sind, dass sie die Erwartungshaltung eines in dieser Tradition stehenden Europäers gegenüber dem, was man mit Gott bezeichnen könnte, prägen, unabhängig davon, ob er religiös ist oder nicht.

Eine der wirkungsmächtigsten Tragödien des attischen Dramatikers Euripides stellt in seiner Hauptfigur Hippolytos einen Menschen dar, der sich unter Verzicht auf alles andere, speziell sexuellem Verzicht, in seinem gesamten Lebensvollzug der Gemeinschaft mit einer (jungfräulichen) Göttin (Artemis) weiht. Er lebt mutatis mutandis ein christliches Mönchsideal. Diese Haltung erscheint der Frömmigkeit des Durchschnittsmenschen, vertreten durch einen älteren und sozial niederer stehenden Erzieher, falsch: religiöse Observanz (gr. sébomai, semnós, durchaus vergleichbar lat. pietas) bedeutet: Wahrung des gebührenden Abstandes zu nicht eindeutig, nicht auf eine bestimmte göttliche Wesenheit festlegbaren Mächten.

Sie verbietet absolute Hingabe an einen bestimmten Gott, da dies zur Verletzung von Pflichten gegenüber anderen Göttern führen muss. Observanz in diesem Sinne wird in der Tat von Vorne herein von einer Göttin (Aphrodite) eingefordert und so autorisiert. Aphrodite sagt, es beleidige sie nicht, dass eine andere Göttin geehrt werde, nur müsse auch ihr die schuldige Ehrerbietung zuteil werden. Um Missachtung zu ahnden, bringt sie rücksichtslos nicht nur Hippolytos, sondern auch ›unschuldige‹ Nebenfiguren zu Fall. Artemis kann ihrem Schützling nicht helfen. Als Hippolytos im Sterben liegt, offenbart sie einer unschuldig verstrickten Nebenperson (dem Vater Theseus) schonungslos, geradezu sadistisch die ihn zutiefst erschütternde Wahrheit; Hippolytos selbst gesteht sie nur ihr Bedauern, ihm nicht helfen zu können, und verlässt ihn, bevor er zu Tode kommt, um als Göttin nicht der Begegnung mit dem Tode ausgesetzt zu sein.

Sie ermöglicht aber die Aussöhnung mit dem unwissentlich für Hippolytos’ Tod verantwortlichen Vater: angesichts des Todes bleibt nur die Gemeinschaft sterblicher Menschen. Der antike Gott, der keine Exklusivität für sich reklamiert, wie der Gott der zehn Gebote, der nur eifersüchtig ist, dass ihm nicht dieselbe Ehre wie einem anderen zuteil wird, hat weder die Macht, den Menschen vor Leid zu bewahren, noch kann der Mensch hoffen, dass er ihn in seiner letzten Stunde beisteht. Hippolytos nimmt es zwar mit einem Ausdruck des Bedauerns, aber doch als etwas Selbstverständliches hin, dass seine Göttin ihm im Augenblick des Todes die Gemeinschaft aufkündigt, dass es ihr ›leicht‹ fällt, ihn zu verlassen, wie den Göttern, die Leid und Sterblichkeit nicht kennen, alles leicht fällt.

Artemis hatte Hippolytos für seine Hingabe nie etwas versprochen, Hippolytos nie von ihr erwartet, dass sie ihn in seiner letzten Stunde ›aus seiner Angst und Pein‹ reißt. Der jüdisch-christlich-islamische Gott macht dem Menschen ein verlockendes, aber zugleich bis ins Letzte radikales Angebot: er verspricht ihm absolute Geborgenheit bis in den Tod und fordert dafür absolute, exklusive Hingabe von Seiten des Menschen.

Der Gott der paganen griechisch-römischen Antike hat dem Menschen nie etwas versprochen; der Mensch kann von ihm nichts einfordern, er kann letztlich nur mit seinem Diesem-Gott-Ausgeliefertsein umgehen, indem er Schadensbegrenzung betreibt. Und die ist immer nur beschränkt wirksam. Allerdings führt das Gefühl des Ausgeliefertseins im Angesicht der Übermacht des Göttlichen den Menschen zum Menschen, öffnet ihn für ein Miteinander, das Differenzen aufhebt, führt zum Ertragen des anderen in seiner Schwäche, in gewisser Weise zur Toleranz: Euripides spricht von syngnómen échein »ein Einsehen (mit der Fehlbarkeit des anderen) haben«.

Eine solche Religion erhebt per se keinen theoretischen ›Wahrheitsanspruch. Ihre skeptische Vorsicht kann grundsätzlich nicht nur mit anderen Religionen koexistieren, sie tritt unweigerlich anderen Religionen vorsichtig gegenüber, sie verweigert sich ja gerade der Exklusivität. Diese Religiosität ›toleriert‹ Handlungen oder Überzeugungen nur dann nicht, wenn sie ihre religiöse Praxis gefährden, da sie darin möglichen Schaden vermuten muss.

Gegenstück dieser aporetischen Religiosität ist die Philosophie. Sie sucht, die Gewissheit zu vermitteln, die das Gefühl des Vertrautseins ermöglicht. Philosophie ist die ›Religion‹ der klassischen Antike im modernen gemeinsprachlichen Sinne von Heilslehre. Einen Wahrheitsanspruch erhebt in der Antike nur die philosophische pagane Religion. Die jüdisch-christlich-islamische Religiosität impliziert unmittelbar einen Wahrheitsanspruch: Gott ist unmittelbar als der verlässlich Anwesende und somit Vertrauenswerte schlechthin gegeben.

Dieser Wahrheitsanspruch muss unvermeidlicherweise zur Auseinandersetzung mit anderen Wahrheitsansprüchen führen. Das Richtmaß der Wahrheitsansprüche im historischen Umfeld, die philosophische Vernunft, ist freilich von dem der monotheistischen Offenbarungsreligion verschieden; in der Auseinandersetzung treffen die beiden Richtmaße aufeinander: es kommt zu der Opposition ratio vs. fides, wobei die ratio zur Magd der fides instrumentalisiert wird.

Dieser Gegensatz ist nur auf der Grundlage der spezifischen Bedingungen denkbar, unter denen sich zunächst die jüdisch-christliche, dann die islamische Religion im Umfeld antiker Religiosität gebildet hat. Somit ist auch das moderne säkulare Staatsverständnis letztlich nur in einer von solcher Religiosität geprägten Kultur im strengen Sinne erklärbar. Die Intoleranz, die der gemeine Verstand der westlichen Zivilisation heute mit Religion verbindet und die es im Kontext der Lage der Religion bzw. der Religionen in dieser Zivilisation bzw. der von dieser Zivilisation global vereinnahmten Welt gibt, geht letztlich auf diese Antinomie zurück. Sie geht darauf zurück, dass ein zunächst in der Religion einer Gruppe entwickeltes Konzept von Exklusivität einen universalen Wahrheitsanspruch erhebt und diesen mit einem von außen herangetragenen Maßstab, etwa einer sog. Vernunft, zu begründen versucht.

Intoleranz erscheint somit zunächst überhaupt nicht als ein Problem der Religion schlechthin, sie erscheint als Problem einer bestimmten Art von Religion, noch dazu einer Art von Religion, in der gerade ein nicht genuin religiöses, sondern von außen in diese Form eingegangenes Element für diese Intoleranz wesentlich mitverantwortlich ist: Toleranz und Intoleranz sind Haltungen, die sich aus einem im Letzten antagonistischen Verhältnis von religiöser Überzeugung und Vernunft ableiten. Somit wäre durch diese Reflexion auf die Fragwürdigkeit des Begriffes Religion in Europa auch der Begriff Toleranz stricto sensu definiert; Toleranz bedeutet: das Ertragen einer anderen quasi-religiösen Überzeugung, die man gegenüber der eigenen für minderwertig hält. Dies ist ein sozusagen minimalistisches Konzept von Toleranz, das sich rein negativ als Nicht-Einmischung definiert.

An diesem Toleranzmodell orientiert sich ein in Religionsangelegenheiten neutraler Staat, der nur seine eigene Neutralität als unantastbar und somit absolut setzt. Aus dieser Sicht sind Religionen wie Christentum oder Islam, grundsätzlich als problematische Überzeugungen zu werten, die man allenfalls tolerieren kann. Es ist zugleich folgerichtig und paradox, dass der moderne säkulare Staat eben diese Religiosität zu einer minderwertigen, zu tolerierenden Überzeugung degradiert: er tut dies, indem er selbst durch die Hintertür die Position der Religion mit ihrem allgemeinverbindlichen Geltungsanspruch einnimmt.

Dieser Geltungsanspruch scheint als Neutralität gefasst fast inhaltsleer, gerade so wird jedoch verdeckt, dass er dadurch umso despotischer ist, denn dadurch, dass er einen Minimalkonsens darstellt, setzt er sich in besonders drastischer Weise absolut. Zumindest dieses Minimum muss ausnahmslos gelten, da sonst kein Zusammenleben möglich ist. Dieser Staat verlangt von seinen Bürgern unbedingte Hingabe an die Neutralität des Staates, auch auf Kosten der eigenen religiösen Überzeugung. Wer diese Loyalität verweigert, wird nicht toleriert. Es gibt einen Punkt, an dem dieser Staat radikal intolerant sein muss.

Es ist hier nicht die Stelle auszuführen, wo die Gefahren dieses Staatsmodells liegen. Sie sind in der gegenwärtigen Entwicklung der westlichen Gesellschaft unübersehbar. Ich möchte viel eher die Frage nach einem anderen positiven Toleranzbegriff aufwerfen. Dabei gehe ich wieder von der Befindlichkeit unserer modernen westlichen Gesellschaft aus. Neben jener bislang beschriebenen ›missmutigen‹ Toleranz, die das andere erträgt, bis die Toleranzgrenze überschritten ist, gibt es da nicht in unserer Befindlichkeit auch eine Toleranz, bzw. etwas, das wir durchaus mit diesem Wort benennen, das uns, jenseits einer bloßen Hilfe zur Problemlösung in Konfliktfällen, an sich selbst ein positives befreiendes Gefühl des Freiseins bei uns selbst vermittelt? Sind Menschen einer toleranten Gesellschaft nicht auch einfach stolz darauf, tolerant und offen zu sein? Fühlen wir uns nicht gerade dabei wohl, anderen mit Offenheit zu begegnen und den anderen als offen auch uns gegenüber zu erleben?

Wenn wir auch diese Offenheit Toleranz nennen, dann ist diese Toleranz nicht mehr ein ›Ertragen‹, auch kein Verhältnis von Höher- zu Minderwertigem: in dieser Offenheit sind wir frei dazu, ganz wir selbst zu sein, indem wir den anderen den anderen sein lassen. Aber woher kommt es, dass wir gerade im Anerkennen des anderen das befreiende Gefühl des Man-selbst-sein-dürfens erfahren? Und wenn wir so stolz auf diese sog. Toleranz und Offenheit sind, warum gelingt sie uns oft nicht, so dass wir immer wieder Toleranz von uns einfordern müssen und in die Toleranz des missmutigen Ertragens zurückfallen? Ganz offenbar können wir den anderen nicht unbeschränkt gelten lassen, ohne uns selbst zu verlieren. Als diejenigen, die wir sind, beharren wir unweigerlich auch immer wieder auf uns selbst und verschließen uns dem anderen.

Wir haben zu Beginn von dem absoluten Geltungsanspruch der monotheistischen Offenbarungsreligion gesprochen, die das Ertragen des anderen so schwer macht. Aber war dieser Geltungsanspruch, der die ungeteilte Zuwendung des ganzen Menschen fordert, nicht gerade durch die ungeteilte Zuwendung Gottes zum Menschen in dieser seiner Offenbarung bedingt? Was könnte den Menschen zur Abwendung von seinem Verhaftetsein im Fassbaren seines Lebenszusammenhanges, zu ungeteilter Zuwendung zu etwas Unfassbaren bewegen, wenn nicht das verlockende Angebot, dort jene absolute Zuwendung zu finden, die dem Menschen kein anderer Mensch je schenken kann, der ebenso endlich, zerbrechlich und unvollkommen ist wie man selbst?

In dem sich dem Gläubigen offenbarenden Gott erfährt der Mensch eine ungeteilte Zuwendung, die nichts, kein Eigenes in sich zurückbehält, eine Zuwendung, in der das sich Zuwendende eben in der Zuwendung ganz es selbst ist, und in dieser Zuwendung erfährt der Mensch sich diesem Anderen immer schon ganz zugewendet und gerade in seinem Zugewendetsein als ganz er selbst. Das heißt das volle Anerkennen des anderen als anderes gelingt nur im Angesicht eines so von allem anderen Anderen, dass es gerade im Sich-Aufgeben-an-das-andere es selbst ist. Das Wesen der Offenbarungsreligion liegt somit nicht in einem sich in Geltung beanspruchenden Aussagen behauptenden ›faktischen‹ Wahrheitsanspruch.

Dieser Wahrheitsanspruch ist nur der Reflex menschlichen Beschränktseins, das uns in unserem Einzelsein die bedingungslose Selbstaufgabe an das unbekannte Andere verwehrt und versucht, Letzteres durch eine Vernunft- oder Verstandeswahrheit fassbar und so zum Träger von Eigenschaften zu machen, die uns Zuwendung ermöglichen. Jeder solche Wahrheitsanspruch kann immer nur ein vorläufiger, zur Zuwendung führender und in der Erfahrung des eigenen Zugewendetseins aufgehobener sein. Eine Offenbarungsreligion kommt erst dort in ihr Wesen, wo sie ihren eigenen Geltungsanspruch als etwas Vorläufiges immer wieder aufhebt und überschreitet. Dieser Akt des Überschreitens öffnet radikal für das andere, er ermöglicht jene bedingungslose Offenheit für das andere, die wir niemals besitzen, sondern immer neu von uns einfordern müssen. In dem ihr wesenhaften Element der Selbstüberschreitung legt somit gerade die Offenbarungsreligion den Grund für Toleranz im Sinne nicht mehr des Ertragens, sondern der – viel berufenen goetheschen – ›Anerkennung‹ des anderen.

Weiterführende Literatur des Autors
Günther, Hans-Christian: Religiöse Wahrheit und der interreligiöse Dialog heute, Idee 62/63 2006 (51-74).
–: Religion und Ethik in der (post)säkularen Gesellschaft, in: Psycho-logik. Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur, 6. Heft 2011 (229-48).


Prof. Dr. Hans-Christian Günther

Geb. am 28.4.1957 in Müllheim / Baden

Professor für klassische Philologie an der Albert-Ludwigs-Universität. Zahlreiche Publikationen und Gastprofessoren. Lange Aufenthalte in der VR China. Im Bereich der Altertumswissenschaft besonderer Schwerpunkt auf der politischen Dichtung der Augusteer und allgemein der Reflexion antiker Autoren auf ihre gesellschaftliche Stellung und Verantwortung

Seit 2004 Tätigkeit im Bereich des Dialogs der Religionen und Kulturen mit zahlreichen Veröffentlichungen.

Zahlreiche Publikationen und Gastprofessoren. Lange Aufenthalte in der VR China. Im Bereich der Altertumswissenschaft besonderer Schwerpunkt auf der politischen Dichtung der Augusteer und allgemein der Reflexion antiker Autoren auf ihre gesellschaftliche Stellung und Verantwortung Seit 2004 Tätigkeit im Bereich des Dialogs der Religionen und Kulturen mit zahlreichen Veröffentlichungen.

Ausgebildet in Freiburg und Oxford. Stipendiat der DFG und der Alexander von Humboldt -Stiftung. Gerhard Hess Preis der DFG.

Zahlreiche Publikationen (ca. 40 Bücher, u.a. Brill’s Companion to Propertius, Brill’s Companion to Horace) im Bereich der antiken Philosophie und Literatur, der Byzantinistik, Neogräzistik, modernen Literatur und Philosophie, Ethik und Politik. Zahlreiche Versübersetzungen aus dem Lateinischen, Italienischen, Neugriechischen, Georgischen, Japanischen und Chinesischen.

Lehrt regelmäßig in Italien, zahlreiche Gastaufenthalte in der Schweiz, Polen, Georgien, Indonesien, Iran, Seoul, Tokyo und vielen chinesischen Universitäten. Herausgeber mehrerer Buchreihen, im wissenschaftlichen Beirat zahlreicher wissenschaftlichen Zeitschriften.