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Kommentar: Mission „Erdogan verhindern!“

Die türkische Opposition steht vor großen Herausforderungen, um die nächste anstehende Parlaments- und Präsidentschaftswahl im Jahre 2023 für sich zu entscheiden. Die große Herausforderung besteht darin, die Wiederwahl des türkischen Präsidenten Erdogan zu verhindern.

(Archivfoto: tccb)
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Ein Gastbeitrag von Nabi Yücel

Die türkische Opposition steht vor großen Herausforderungen, um die nächste anstehende Parlaments- und Präsidentschaftswahl im Jahre 2023 für sich zu entscheiden. Die große Herausforderung besteht darin, die Wiederwahl des türkischen Präsidenten Erdogan zu verhindern. Ob das mit einem Oppositionskandidaten gelingt, der mehrmals in Folge Wahlen verloren hat? Welche Chancen kann man den Splitterparteien einräumen, die sich von der CHP, MHP und der AKP heraus gebildet haben?

Erdogan und seine größten Widersacher

Erdogan hat drei große Gegner: die Pandemie, die Folgen der Pandemie und Materialermüdung. Seit Anfang 2020 versucht Erdogan mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die grassierende Pandemie in den Griff zu bekommen. Sinkende Wirtschaftskraft war die Folge, die gegenwärtig aufgehalten zu sein scheint. Die Nachwehen der Krise werden die Türkei aber noch lange beschäftigen, zumal die weltweite Krise auch auf die Türkei zurückfällt. Zudem gehen 18 Jahre Amtsgeschäfte nicht spurlos vorüber, weshalb die Opposition dazu übergegangen ist, das als Metallermüdung beim Namen zu benennen.

Inönü und Ecevit sowie die Konjukturbedingungen

Die Opposition wirft in diesem Zusammenhang dem türkischen Präsident Erdogan vor, vormals die ehemaligen Ministerpräsidenten Inönü und Ecevit aufgrund ihres Alters zum Rücktritt aufgefordert zu haben. Erdogan müsse, wenn er zu seinen Aussagen von damals stehe, nun selber seinen Rücktritt in Erwägung ziehen. Beide ehemaligen Ministerpräsidenten, die vor allem von der Oppositionspartei CHP vor Anfeindungen von AKP-Anhängern geschützt werden, hatten in ihrer Endphase Krisen von bedeutender Größe zu bewältigen.

Gegenwärtig steht Erdogan vor der großen Aufgabe, die gegenwärtigen schweren Konjunkturbedingungen zu meistern, die einst auch Inönü oder Ecevit zu bewältigen hatten. Was damals Erdogan als Oppositioneller den Regierenden vorhielt, halten nun die damaligen Regierenden Erdogan vor. Das wirft in diesem Lichte betrachtet die Frage auf, welche Ziele die Opposition selbst verfolgt. Will sie zu jedem Preis Erdogan vom Thron stürzen, das Land aus der Krise führen oder beides zugleich?

Zu welchem Preis?

Der Preis, den die Oppositionspartei CHP zu zahlen bereit wäre, verschreckt aber einen großen Teil der eigenen Wählerschaft. Die vormals hinter verschlossenen Türen mit Vertretern der völkisch-kurdischen Partei HDP abgehaltenen Runden um die türkische Verfassung sind noch nicht vergessen. Auch jetzt noch jagt der eine oder andere Politiker der HDP dieselbe Sau immer wieder durchs Dorf; wohl in der Hoffnung, diese Dauerschleife löse eine Gewohnheit und damit Akzeptanz aus. Zudem werden auch die Rezeptoren der türkischen Bevölkerung immer wieder gereizt; wohl in der Hoffnung, diese würden abstumpfen und die eigene wie auch die Position der Oppositionspartei CHP verbessern.

Reizüberflutung

Mittwochvormittag trat zu bester Zeit die Ehefrau des inhaftierten ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtas, Basak Demirtas, vor die Kameras des türkischen Oppositionssenders Fox TV. Moderator İsmail Küçükkaya leitete die Sendung „Çalar Saat“ wie gewohnt mit einem Porträt des türkischen Republikgründers Atatürk. Hinter dem Bild von Atatürk stand Basak Demirtas, die die Not der Familie Demirtas aufgrund der Inhaftierung des Familienoberhaupts zur Aussprache brachte.

Anhand der nachfolgenden Reaktionen kann man die Gereiztheit der Mehrheit der Gesellschaft geradezu messen: Rufe nach Schließung des TV-Senders wurden laut. İsmail Küçükkaya wird als Vaterlandsverräter beschuldigt. Die Regulierungsbehörde für den privaten Rundfunk in der Türkei (RTÜK) hat angekündigt, die Sendung in Augenschein nehmen zu wollen.

Was war der Auslöser dieser Gereiztheit?

Es trafen heute viele Faktoren zusammentreffen: Am 6. Oktober 2014, also vor 7 Jahren, wurden im Südosten des Landes Unruhen losgetreten, die zur mehr als 50 Todesopfern, Hunderten Verletzten und einem Schaden von über 300 Millionen TL führten sowie bis zum 8. Oktober anhielten. Der Auslöser dieser Unruhen war der Aufruf von Selahattin Demirtas zum Ungehorsam gegen den Staat. Am 7. Oktober 2014 starb der damals 16-jährige Yasin Börü, der an diesem späten Nachmittag zum Opferfest von Haus zu Haus Spenden verteilte und mit einer Brutalität ermordet wurde, die bis heute nachhallt. Sein einziges Vergehen: diesem Aufruf nicht gefolgt zu sein. Erschwerend kommt hinzu, dass der TV-Sender bis heute weder die Eltern von Yasin Börü geladen haben, geschweige denn irgend einen Hinterbliebenen von Terroropfern.

Nimmt man all diese Faktoren zusammen, kommt man als Betrachter kaum umhin, dem Auftritt von Basak Demirtas im TV-Sender Fox TV zumindest Pietätlosigkeit vorzuwerfen. Vor allem das Wirken des TV-Senders Fox TV, die mit ihrer Nähe zur Oppositionspartei CHP brilliert, kommt dabei gar nicht gut weg, zumal Atatürks Porträt so deplatziert auf dem Pult steht wie Abdullah Öcalans Porträt in der Fraktionssitzung der CHP an der Wand hängt.

Mission um jeden Preis?

Die türkische Opposition ist sich sehr wohl bewusst, dass die Abwahl von Erdogan vor allem in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl kaum zu stemmen ist. Erst mit der zweiten Wahlrunde hätte ein von allen Oppositionsparteien aufgestellter Kandidat eine höhere Chance, Erdogan vom Thron zu stürzen. Das liegt vor allem an der Wählerschaft der amtierenden AKP-Partei, deren Zweidrittelmehrheit aus national-konservativen besteht. Nur ein letzter Drittel sind konservativ-islamische Wähler, die auch bis zum bitteren Ende ihr Kreuz unbeirrt auf die AKP setzen würden.

Das einzige, was die Mehrheit der AKP-Wähler zum Umdenken bewegen würde, wäre, dass die anhaltende Krise weiter anhält und die eigenen Verhältnisse über die Gebühr hinweg strapaziert. Letztlich bewegt die Menschen noch immer ihr eigener Wohlstand und Sicherheit. Ist diese in Gefahr oder wird immer weiter ausgedünnt, besteht für die Opposition die Hoffnung, diese Wähler an sich zu binden.

Kampfansage gegen Erdogan

Auf der einen Seite wird wie schon angedeutet derzeit eine Sau nach der anderen durchs Dorf getrieben, um die Menschen abzustumpfen. Das Gerede um die ersten Verfassungspunkte, die zuvor von der Opposition ins Gespräch bzw. hinter verschlossenen Türen mit der HDP besprochen wurden, kann die AKP zum Teil dadurch kompensieren, in dem sie dieses Gerede ebenfalls anspricht und damit den nationalen Flügel aller Parteien aufrüttelt. Ein gewagtes Spiel, jedoch wohlkalkuliert und überaus effektiv.

Die technologischen Fortschrittserfolge des Landes werden von der Opposition kaum erwähnt oder aufgegriffen, obwohl sie das Land vorantreiben, neue Märkte erschlossen werden. Stattdessen hat die Opposition die Flüchtlinge zum Spielball ihrer Politik auserkoren. Wenn es nach der Opposition geht, würden die 3,5 Millionen Flüchtlinge lieber heute als morgen abgeschoben werden. Ob das politisch und vor internationaler Bühne durchsetzbar ist, steht jedenfalls in Frage. Auch das ständige Aufgreifen der zum Teil heftig umstrittenen Wirtschaftszahlen zielt darauf ab, die Regierung selbst für den Zustand verantwortlich zu machen, obwohl die Krise der Pandemie nicht nur die Türkei fest im Griff hat, sondern Schwellenländer und Industrienationen weltweit.

Zuletzt greift die Opposition auch auf die Unterstützung des Westens zurück, was aber ein schmaler Grat ist, auf dem sie sich bewegt. Die Basis der Opposition verstehen sich als Antiimperialisten, die sich von fremden Ländern nicht bevormunden lassen wollen. Dennoch greift man beherzt diese vom Westen ausgestreckte Hand und versteht es als Bereicherung im weitesten Sinne, was die Basis zu der Annahme verleiten könnte, sich zu sehr vereinnahmen zu lassen.

Was hat Erdogan im Ärmel, um den Kampf aufzunehmen?

Erdogan sitzt an der Spitze des Staatsapparats und kennt das einmal eins der Politik von der Pike auf. Es wäre keine Überraschung, wenn Erdogan über Dritte Kanäle kurz vor den anstehenden Wahlen die eine oder andere Hiobsbotschaft hinausposaunen lässt, in der die Opposition so gar nicht gut wegkommt. Welche Skandale dabei die Oppositionsparteien durchrütteln werden, steht noch im Raum, aber wer am Schalthebel der Macht sitzt, hat auch entsprechende Informationen, die nur darauf warten, der Öffentlichkeit präsentiert zu werden.

Auf der anderen Seite hat Erdogan die Möglichkeit, durch Durchimpfen der Bevölkerung, die Folgen der Pandemie auf ein Minimum zu reduzieren. Keinen Einfluss hat Erdogan jedoch auf die weltweit grassierende Krise, die auch die heimische Exportwirtschaft in Mitleidenschaft zieht, vor allem den Tourismus. Gravierender erscheint da die Beziehung zu den USA zu sein, die mit immer neueren Drohgebärden Erdogans Ambitionen zu bremsen versuchen. Ob Washington damit Erfolg haben wird, bleibt fraglich, zumal die einstigen Gönner, das Militär, sich vom Pentagon und Washington völlig abgewendet hat und damit ein Druckmittel von innen heraus ausfällt. Erdogan kann nur versuchen, Washingtons Strafmaßnahmen abzufedern, ohne dabei die Interessen der Türkei aufzugeben. Dafür sorgt im Hintergrund der Koalitionspartner MHP, die die Interna des Landes sicherstellen. Ohne die MHP würde die AKP jedenfalls sang- und klanglos die Wahl verlieren, weshalb die MHP sicherstellt, dass die nationalen Reizthemen ständig wachgehalten werden.

PKK und ihr Ende

Eines dieser Reizthemen, die schon angesprochen wurde, die auch die völkisch-kurdische Partei HDP betreffen, ist die Terrororganisation PKK. Die MHP versucht beständig, die Terrororganisation PKK nicht nur im eigenen Land auszumerzen, sie ist auch Antreiber der militärischen Operationen im benachbarten Ausland. Mit einer nie erlebten Vehemenz haben die türkischen Sicherheitskräfte den Bewegungsspielraum der PKK und weiterer linksextremer Gruppen im Inland auf ein Minimum reduziert. Seit Jahren setzt man diese strenge Politik auch im Ausland fort und hat sich in den Nachbargrenzen tief ins Nachbarland eingegraben, um jedwede Bewegung der Terrororganisationen im Keim zu ersticken.

Man hat nun auch verstanden, dass dieses Pressing, Konzentrationen von Top-Figuren der Terrororganisationen nach sich zieht, die mit gezielten Schlägen ausgeschaltet werden können. Beinahe täglich melden derzeit türkische Medien Erfolge im Kampf gegen Terrororganisationen wie der PKK, DHKP-C oder TIKKO, deren Führungsriege damit beständig ausgedünnt wird. Das hat auch zur Folge, dass die Reihen innerhalb der PKK erste Auflösungserscheinungen zeigen. Immer öfter stellen sich „Kämpfer“ der PKK den türkischen Sicherheitsbehörden oder lassen ihre Waffen fallen und tauchen im Nordirak unter.

Dieses Pressing hat auch zur Folge, dass die PKK nach Auswegen sucht, um sich aus diesem Klammergriff zu retten. Immer wieder bringen Führer der PKK nun die Wiederaufnahme der Friedensinitiative zur Aussprache, wobei der in Imrali einsitzende Abdullah Öcalan hierbei als Vermittler zwischen „Kurden“ und dem „Staat“ vorgestellt wird. Auf diese Aussprache hin steigen dann PolitikerInnen der HDP ein, um die Notwendig eines Friedens zwischen „Kurden“ und der „Türkei“ zu unterstreichen. Ob diese Initiative, die von der PKK ausgeht, Erfolg haben wird, steht in den Sternen, solange die türkische Opposition nicht auf diesen letzten Strohhalm greift.

Denn, dieses Thema geht im Kern an der Realität vorbei. Es gibt keine „kurdische Frage“ oder ein „kurdisches Problem“, die gelöst werden müsste, so die Überzeugung innerhalb der Gesellschaft. Die letzte Friedensinitiative, die im Häuser- und Straßenkampf endete, hat innerhalb der Bevölkerung einen bleibenden negativen Eindruck hinterlassen, dass mit den „Kurden“ an sich wenig zu tun hat, so die Grundmeinung. Man ist geneigt zu behaupten, die Gesellschaft würde seitdem kalten Joghurt pustend und vorsichtig in den Mund nehmen, so heiß ist das Thema und so frisch das Erlebte. Das erkennt man auch an den jetzigen Reaktionen zur TV-Sendung von Fox TV.


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


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